Weggefährten Teil 2

Einen Teil 1 mit gleichem Titel gab es schon, jedoch liegt er lange zurück. Ich schrieb ihn in der Anfangszeit dieser Website, auch mit dem Ziel den Verkauf meiner Bücher zu verbessern. Hier nun eine wenn man so will aktualisierte Fassung zum selben Thema.

Im letzten Beitrag über meinen persönlichen Werdegang im Budō musste so manches an wichtigen Einzelheiten einfach aus Platzgründen unter den Tisch fallen. Andernfalls wäre das ganze ja ein Buch geworden. Und doch gibt es mancherlei Verquickungen mit anderen Bereichen des Lebens, welche sofern sie unerwähnt bleiben, das Geschehene bisweilen etwas schwer verständlich bleiben lassen. Dabei halte ich einen Gesichtspunkt ganz besonders wichtig, der dort völlig zu kurz kam und dem ich hier „eine ganze Folge“ widmen möchte.

mit Sensei Demura: Francisco Camarena (s. extra Beitrag) und Natsu Kadoya (s.u.)

Vieles oder eigentlich ja alles im Leben ist kaum erreichbar ohne die hilfreiche Zuwendung anderer Menschen. Das muss nicht immer und unbedingt tiefgreifende Aufopferung sein, die einem da zuteil wird. Oft reicht(e) es, wenn die betreffende Person einem wohlwollend gegenüberstand und davon absah einem irgendwelche ihrer sozialen Stellung entsprechenden Knüppel zwischen die Beine zu werfen. So hatte ich im Rahmen meiner organisatorischen Tätigkeit gerade bei Behörden immer wieder mit Leuten zu tun, die alles im Rahmen der Möglichkeit taten mir das Gewünschte zu gewähren. Gleichwohl hatte ich auch Gegenteiliges erlebt. Und abgesehen davon, dass es so aus dem Wald schallt wie man hinein ruft, also ob man nett auf die Leute zugeht, gibt es natürlich auch Zeitgenossen, die einfach nicht wollen und denen die Bestätigung ihrer bescheidenen Macht wichtiger ist als das Wohl anderer. Dabei gibt es solche Zeitgenossen nicht nur in Behörden, leider trifft man diese Art Mitmenschen auch innerhalb unserer erlauchten Kreise, und davon nicht gerade wenige. Aber um die soll es hier gar nicht gehen, sondern es sollen möglichst viele all jener genannt werden, die mir halfen meine kleinen und größeren Ziele zu verwirklichen.

Holger Brückner

Beginnen möchte ich mit den im vorigen Beitrag erwähnten Connections, die ich nutzte um Sensei Demura zu kontaktieren und später bei ihm zu lernen. Der Wunsch dazu, also mich direkt einem japanischen Meister anzuvertrauen, wurde genährt von Holger Brückner, der im Januar 2021 leider verstarb. In dessen Schule in Lübeck trainierte ich weiter Judō als ich Ende der 70er Jahre schon in Kiel studierte. Er hatte immer mal wieder Judō-Instruktoren aus Japan zu Gast, was mich sehr beeindruckte. Durch seinen recht unkonventionellen Unterrichtstil und im Rahmen persönlicher Gespräche half er mir meinen damals noch recht beschränkten Blick auf das Wesen der Budō-Künste zu erweitern. U.a. empfahl er mir dringlichst mich mit Literatur über Zen zu befassen. Als ich ihm mitteilte, ich wolle zu Sensei Demura, verwies er mich an Dieter Stehn, einen Freund und Kollegen aus der Zeit der Judō-Pioniere. Dieser unterhielt ebenfalls ein Schule mit dem Namen Nippon in Hamburg, in welcher auch der damals recht bekannte Kung-fu Meister Al Dacascos unterrichtete. Er war mit Sensei Demura bekannt und so erhielt von ihm dessen Adresse in Kalifornien. Wertvolle Tips für meinen Aufenthalt bekam ich auch von dem dortigen Karate-Trainer Andreas Brannasch, der da schon häufig in die USA gereist war.

Sportschule Samurai

Nach der Bundeswehr studierte ich Chemie an der Uni in Kiel. Ich trainierte dort in der Gruppe des Sport-Forums, welche dem DKB angehörte. Um meine Dan-Prüfungen innerhalb der DKU machen zu können wurde ich Mitglied der Sportschule Samurai, ebenfalls in Lübeck. Die Inhaber Michael Becker und Martin Erben kannte ich aus früheren Tagen im Lübecker Judo Club. Sie ermöglichten mir großzügigerweise eine weitgehende Eigenständigkeit bei meinem Üben, denn ich war „traditionell“ orientiert, im Gegensatz zu dem von ihnen selbst praktizierten „modernen“ Karate, dem des Leichtkontakt mit Schutzausrüstung. Mein Übungspartner war dann Rainer Kummerfeldt. Auch er trainierte als wir uns kennenlernten anfangs noch das moderne System, kehrte diesem aber im Laufe der Zeit zugunsten der Tradition den Rücken. Jenes sogenannte moderne und somit als fortschrittlich angesehene Karate kennt heute kaum noch jemand.

Gesellige Runde mit Sensei Fujinaga und seiner Frau Brigitte, im Hintergrund Dieter Flindt, links Rainer Kummerfeldt

Mit Rainer verbanden mich bald viele Interessen in Sachen Kampfkunst. So fuhren wir u.a. gemeinsam zu all den Seminaren des Kobudō-Kaders des Dr. Georg Stiebler, später dann auch zu jenen des Franz Gaschler um Iaido zu lernen. Noch später dann besuchten wir regelmäßig das Iaidō-Training in Reibeck bei Karl-Heinz-Lübcke. Auch verwies mich Rainer auf eine Notitz in einem namhaften Karate-Magazin, es gäbe einen neuen von Hirokazu Kanazawa gegründeten Weltverband. Das war eine Alternative für uns DKU-ler, denn im DKB ging es uns ein wenig zu verkrustet zu. Zuvor waren wir mit Dieter Flindt auf dem Gasshuku in Kempten gewesen. Es wurde von dem sogenannten Dachverband veranstaltet, der später zum Deutschen Karate Verband (DKV) wurde. Ich hatte bei Dieter Flindt einst, ab 1972, Karate „gelernt“,  also in dem was damals so als Unterricht geboten wurde. Auf meiner ersten Dan-Prüfung trafen wir uns wieder. Er war mittlerweile Funktionär im KVSH und führte eine Gruppe „auf dem Land“ als Sparte des TSV Pansdorf (nahe bei Bad Schwartau). Er lud mich in alter Freundschaft dorthin zum Training ein. Rainer folgte ebenfalls der Einladung und so begannen wir drei bald mit einem profunden Training aller uns bekannten Kata. Als Team konnten wir sogar auf Meisterschaften einige bescheidene Erfolge erringen. Irgendwann teilte er uns mit er wolle eine private Schule gründen. Diese Schule mit dem Namen Tokugawa in Bad Schwartau gibt es bis heute.

neben Sensei Funinaga: Dieter und Rainer

Darauf folgte eine gute Zeit des Vorankommens für alle. Wir traten dem SKI bei und wurden Schüler von Sensei Nagai, obwohl ich mich heute, zumindest was mein Shōtōkan betrifft, eher als Fujinaga-Schüler bezeichnen möchte. Dieter war eine geraume Zeit sogar Geschäftsführer dieses Verbandes. So konnten wir dann im Laufe der Jahre auch weitere der dortigen Instruktoren, insbesondere natürlich Meister Kanazawa selbst persönlich kennenlernen. Rainer und ich waren bei Dieter als Trainer tätig und genossen dadurch so einige Previlegien, die unserem persönlichen Fortschritt außerordentlich förderlich waren. Mit der Zeit änderten sich jedoch unsere Prioritäten und so gingen unsere Wege auseinander. Die Wege von Rainer und mir trafen sich später wieder und das Ergebnis war die erste Einladung Sensei Demura´s nach Deutschland und die folgende Rückkehr zum DKV, verbunden mit der dortigen Gründung der Stilrichtung Shito-ryu.

zwei Kobudo-Verrückte – oder zwei Verrückte beim Kobudo?

Bei meinem Blick zurück wird mir immer wieder klar, wie wenig ich ohne die hier an zwei Beispielen geschilderte Unterstützung durch Budō-Kameraden erreicht hätte. Völlig auf sich allein gestellt, wird ein jedes Unterfangen schwer, wenn nicht sogar unmöglich. Jene Reisen, die ich ganz alleine antrat, bestätigten mir dies um so mehr. Allerdings erfuhr ich gerade  bei meinem Aufenthalt in Kalifornien von vieler Seite her freundliche Unterstützung, weshalb ich an jene Zeit gerne zurückdenke. Bei meinem zweiten Aufenthalt lieh mir einer der Leute sogar eins seiner damals noch recht typisch großen Autos.

Das gegenseitige Unterstützen erwächst natürlich nicht nur aus reiner Mitmenschlichkeit. Oft profitieren beide Seiten davon, wobei die Interessen nicht unbedingt deckungsgleich sein müssen. Besonders die Vorstände der regionalen Sportvereine waren wohl weniger interessiert an Spritualität oder dem Wesen des Budō, als vielmehr an Prestige und steigenden Mitgliederzahlen. Ich kann mich jedenfalls über meine Zeit beim Heikendorfer Sportverein (bei Kiel) nicht beklagen, auch was die moralische Unterstützung und die Bezahlung betrifft. Zu guter letzt  kann ich nur all den auf kleineren und großen Events hilfreich Beteiligten, insbesondere den Müttern und Vätern der kleinsten Mitglieder nicht dankbar genug sein.

mit „Ami-Schlitten“

Nicht unerwähnt bleiben sollte eine Person, welche in den 80er Jahren mein Leben kreuzte und dann wieder verschwand. Ein gewisser Curtis Clavin-Hesse, ein Mann des Wing-Tsun Kung-fu, „gastierte“ um die zwei Jahre in Bad Schwartau, dem Ort der Schule Tokugawa. Es bildete sich zwischen uns so etwas wie eine vertrauensvolle Kameradschaft, was damals unüblich war zwischen Kung-fu- und Karate-Leuten, und so konnte ich viel Internes über seine Kampfkunst erfahren. Mit diesen wertvollen Informationen begann ich später viele bis dahin als „bewährt“ geltende Sichtweisen des traditionellen Karate, besonders des Shōtōkan, in Frage zu stellen.

Frank Holderbaum – 80er Jahre

Vielleicht sollte ich noch jene Leute nennen, die mich beim Schreiben der Bücher unterstützen. Zum einen sind da meine langjährigen Trainingskameraden Andreas Plöger und Frank Holderbaum, ehemals „Schüler“ von mir bei Tokugawa. Von Frank stammen die Fotos im zweiten Werk.

Lourdes Meléndez

Besonderer Dank gebührt auch meiner Schwägerin Maria Lourdes Meléndez, eine exzellente Informatikerin. Ich hatte durch ein dummes Versehen (Windows XP !) mehr als die Hälfte vom Rohtext des ersten Buches – zumindest für mich – unwiderruflich gelöscht. Es gelang ihr jedoch das Dokument aus den Tiefen der Festplatte soweit wiederherzustellen, dass ich nicht noch einmal von ganz von vorn anfangen musste. Ich war damals vielleicht fertig mit der Welt! … Dank natürlich auch den Verlegern Werner Kristkreitz und Frank Elstner (Palisander) für all ihre professionelle Geduld – und dass sie sich meiner überhaupt annahmen.

vor den Foto-Aufnahmen: Dolores, meine Wenigkeit und Andreas in dessem Privatdojo

Um auf dem Weg des Budō mehr Tiefe zu erfahren, sah ich es als nötig auch die Kultur des Ursprungslandes und damit die Sprache zu studieren. Bei beidem half mir meine Partnerin Natsu Kadoya. Sie gab Kurse für die Deutsch-Japanische Gesellschaft Schleswig-Holstein mir Sitz in Kiel. Um schneller voran zu kommen nahm ich bei ihr auch Privatstunden. Wie es dann so kam … am Ende waren wie über 14 Jahre lange ein Paar. Während dieser Zeit habe ich viel gelernt über die Menthalität aller Japaner, d.h. nicht nur die der Budō Betreibenden, deren Sitten und Gebäuche. Auch weiß ich nun einiges über die Zeremonie des Tee oder das Arrangieren von Blumen. Ich verdanke ihr ein beträchtliches Hintergrundwissen über Land und Leute und glaube daher, ohne sie wäre ich auch nie in der Lage gewesen, derartige Bücher zu verfassen.

Nun will ich hier nicht in Manier wie bei der Oscar-Verleihung in Hollywood eine vermeintlich vollständige Liste aller herunterbeten, die bedankt sein wollen. Ich meine, das wesentliche ist gesagt worden: Allein sind wir nichts, und bei allem erforderlichen Individualismus können wir nur gemeinsam aus Ideen Realität werden lassen. Leider wird dieser Part von nicht wenigen – auch illustren Budō-Berühmheiten – allzu leicht vergessen.

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Blick zurück im Budo – Teil 2

Dieser zweite Teil meines Rückblicks enthält nun einige für manchen vielleicht ungewöhnliche oder gar provokante Schlussfolgerungen.

Um es einmal ganz klar zu betonen: Ich bin allen Lehrern, die sich meiner widmeten überaus dankbar. Denn es ist nicht unbedingt selbstverständlich das eigene Wissen oder Können mit jemand anderem zu teilen. Die meisten dieser Trainer vermittelten es so gut sie eben konnten und gewiss, da gab es Unterschiede in der Qualität, aber das ist nur natürlich. Wir haben alle unsere Stärken und Schwächen, und nicht jeder ist ein geborener Pädagoge. Aber durch die der damaligen Zeit geschuldeten Ermangelung besseren Wissens kamnicht immer alles richtig herüber, wie man es sich heute vielleicht gewünscht hätte. Der eigene Horizont konnte jedoch trotzdem immer ein wenig erweitert werden – sofern man es nur zuließ.

Ein wesentliches Ergebnis von all dem Treiben vergangener Jahre ist die Erkenntnis über die Begrenztheit (nicht nur) eines Kampfstils, des eigenen und auch der potenziellen Gegner. Dabei respektiere ich all jene, denen das Eigene so reicht, stimme aber nicht mit der weit verbreiteten Haltung überein die eigene Kampfkunst als die einzig wahre zu sehen. Anzuerkennen, dass andere womöglich „besser“ d.h. effizienter sind, zeugt nicht nur von wahrer Budō-Größe, sondern vielmehr von Realismus und somit von der Erfüllung einer Maxime der Kampfkunst. Man denke da nur an Sun Tsu: Erkenne den Gegner und dich selbst. – So habe ich auch die Begrenztheit des Shito-ryu, ja des tradionellen Karate schlechthin, sei es nun aus Japan oder Okinawa, akzeptieren müssen. Das kann frustrierend sein, einen aber auch ermutigen noch weit mehr über all die Tellerränder zu schauen, die wir uns gerne selbst hinstellen.

Kieler Forschung …

Noch einmal einen Blick auf die Zeit an der Kieler Uni. Um dort promovieren zu können, war man gehalten Fächer zu belegen, welche nicht direkt mit dem eigenen zu tun haben, denn ein Doktor sollte ja nicht als „Fachidiot“ dastehen, sondern durchaus eine breitere Bildung vorweisen können. Zumindest war so der Grundgedanke, von der Realität will ich hier nicht reden. So belegte ich neben Vorlesungen in Physik auch solche in Philosphie. In beiden Fächern musste ich mich nachher der Prüfung stellen. In Philosphie ging es für mich besonders um die Prinzipien der Erkenntnis an sich oder anders gesagt, die Begrenztheit allen Wissens. Buchautoren wie Fritjof Capra argumentieren bisweilen wie altchinesische Weise, ja man bekennt sich in diesen illustren Kreisen nur allzu oft zum Daoismus. Ich gelangte so zum chinesichen Weltbild mit all dem Yin und Yang, Hexagrammen und Wandlungsphasen. Dies führte mich auch zur Traditionell-Chinesischen Medizin, der ich mich aus reinem Interesse, aber auch als Mittel zum Erhalt der eigenen Gesundheit widmete. Ende der 80er Jahre begann ich bei Meister Zhichang Li Qigong zu lernen. Die Herangehensweise dort war eine ganz andere als ich sie bis hierher kannte. Man arbeitet im wesentlichen mir der Vorstellung und dem Erspüren und Leiten des Qi im Körper. Ich will hier nicht ins Detail gehen, nur soviel sei gesagt, dass meine gesamte Denkweise bezüglich des Budō hiervon später beeinflust wurde.

In den Jahren, nach meinem Abschluss (1988) und dem Verlassen der Uni war der Berufsmarkt für Chemiker ziehmlich schlecht und nach all dem vergeblichen Suchen nach einer reellen Karrierechance beschloss ich mich der Naturheilkunde zuzuwenden. Zuvor diente ich einige Zeit an der Klinik für Nuklearmedizin der Medizinischen Uni zu Lübeck, wo ich erneut die Begrenzteit, in diesem Fall die der modernen Medizin, erfahren hatte. Nach umfangreichen Kursen, Schulungen und Prüfungen praktizierte ich dann als Heilpraktiker in eigenen Räumen.

Auf Zhang Sanfeng soll der Gebrauch von Vitalzonen zurückgehen.

Die Kenntnisse besonders in Akupunktur und Tuina-Massage waren dann sehr hilfreich bei der weiteren Suche nach Effektivität in der Kampfkunst. Denn die schiere Krafteinwirkung, wie im Karate landläufig gelehrt, konnte es ja wohl nicht das sein, was den Mythos der „tödlichen Schläge“ erklären sollte. Der Begriff „Vitalpunkt“ tauchte in der Szene immer wieder auf und schon in den Werken von Nakayama, Nishiyama und sogar Funakoshi werden sie erwähnt. Aber nie gab es klare Begründungen zu ihrer Funktion, noch wurden Angaben über deren Manipulation in der Praxis gemacht. Meister Funakoshi neigt sogar dazu all das alte Wissen der traditionellen Medizin als überholt zu bezeichnen. Ein Lichtblick war dann das Werk von Patrick McCarthy mit dem Titel „Bubishi – The Bible of Karate“. Obwohl der Vergleich mit der Bibel etwas hinkt, denn es geht ja hier weniger um den Glauben, so war es doch endlich eine Quelle weitreichender Informationen mit einer gewissen Tiefe. Bei dem Buch handelt es sich um eine Kompilation altüberlieferter Textfragmente  der chinesischen Kampfkunst, insbesondere der „Faustmethode“ Chuanfa. Es wird deren Entstehungsgeschichte beschrieben und recht ausgiebig auf die vitalen Stellen des Körpers eingegangen. Die Sammlung an geschriebenem Wort und mehr oder minder schlechten Zeichnungen wurde früher per Hand kopiert, nachdem der Meister es dem einen oder anderen für würdig gehaltenen Schüler überlassen hatte. Es gab also doch ein „geheimes Wissen“, nur wussten lange Zeit die meisten der – sogar japanischen – Instrukturen  kaum davon. Irgendwie kurios …

Für mich war am Ende das von Henry Plée publizierte dicke Buch „L´Art Sublime et Ultime des Points de Vie“ die einzige wirklich ernstzunehmede Quelle zum Thema Effizienz. Nach dessen mehrfachem Lesen war ich erst recht der Überzeugung, dass ohne profunde Kenntnisse in chinesischer Medizin die vitalen Zonen kaum verstanden werden können. Zwar sind die für die Therapie gebrauchten Punkte oder Zonen in Akupunktur und Kampf nicht immer deckungsgleich, das stellt jedoch für die Praxis ein weit geringeres Problem dar. Nur, einfach nach Rezept oder Anleitung vorgehen, ist hier nicht. Als zweiten, vielleicht noch wesentlicheren Aspekt für den freien Kampf enthält der vierte Teil des Buches umfangreiche Hinweise darauf  wie bestimmte Areale unseres Gehirns ja nach Qualität der Kampfsituation aktiv werden, weshalb die meisten der uns beigebrachten Routinen bezüglich Angriff und Verteidigung fragwürdig werden, weil sie im Ernstfall einer extremen Stressituation gar nicht funktionieren würden.

Meister Zhichang Li

Es erklärt sich so auch die alte Form der Unterrichtspraxis der Inneren Kampfkünste Chinas. Nach den Ausführungen von Meister Li ging es dort ursprünglich weniger um konkrete physische Techniken als vielmehr darum den Fluss des Qi so zu optimieren, dass in Situationen wie dem Kampf ums Leben gleichsam von selbst die richtigen Bewegungen freiwerden. Möglich ist dies nur durch einen vollständig zur Ruhe gekommenen Geist, also dem Stillstand allem bewusten Denkens und dem Abklingen jedweder Emotion. Durch eine langwierige über Jahrzehnte dauernde geistig-energetische Schulung wird dann wohl der Anteil des Gehirns nutzbar, der dem evolutionären Stand der Reptilien entspricht: immens schnell, effizient und ohne jeden Skrupel.

Ehrung durch den Präsidenten des KVSH Peter Borgward im Jahr 2000; 10 Jahre Itosukai im DKV

Doch zurück zum Karate: Mit dem Wechsel zum Shito-ryu geriet ich wieder in Organisation und Verbandspolitik, jetzt sogar mit zeitweilem Übergriff auf die sogenannte internationale Ebene. Wie einst schon zu S.K.I.-Zeiten, jetzt jedoch war ich selbst der Hauptverantwortliche in Deutschland. Wir gehörten nun zum Itosukai (später Genbukai) und traten dem Deutschen Karate Verband bei, wo sich gerade eine neue  Abteilung für die Stilrichtung Shito-ryu bildete. Allerdings war das ganze von der Anzahl der Mitglieder her sehr überschaubar. Erneut fuhr ich zu allen möglichen Seminaren und Lehrgängen im In- und Ausland. Und obwohl meine grundsätzliche Einstellung und auch die meiner Kameraden im Sinne von „alles für den Meister“ sich grundsätzlich noch kaum geändert hatte, blieb der Lohn in Form einer internen Unterweisung wieder aus. Zwar wurden immer wieder allerlei Ankündigungen gemacht, was es beim nächsten Mal alles zu lernen hätte geben sollen, aber dann folgte in der Regel die gleiche Soße wie zuvor. Diese Hinhaltetaktik begründete Sensei Demura mit alter okinawanischer Tradition: Die Meister hätten ihren Schülern immer nur einen Bruchteil ihrer Weisheit mitgeteilt und ihnen erst nach extrem langer Zeit einer vermeintlichen Vertrauensbildung die vollständige Version von was auch immer gezeigt. Ich würde heute provokant anmerken: Dazu müsste die zu übermittelnde Weisheit überhaupt erstmal vorhanden sein!

sehr lange her: Launen der 70er Jahre

Das ständige Bei-Laune-Halten ohne Lieferung kann auf die Dauer frustrieren. Im Laufe meines Karate-Lebens habe ich deswegen nur allzu oft talentierte Leute ganz aufhören sehen. Wieder andere wechselten den Stil oder direkt die gesamte Kampfkunst. Sie wurden dann gerne von den Zurückbleibenden und vor allem natürlich dem Meister als verwerflich angesehen, als unaufrichtig oder undankbar – nur wofür?. Dabei wurde, so meine ich, bei all dem Moralisieren nicht genügend zwischen Budō und Bushidō unterschieden. Letzlich befürchte ich für die meisten Weggegangenen, dass  als Ergebnis bei ihnen am Ende das gleiche herauskam. Mir selbst half hingegen ein zwischenzeitliches Schauen bei anderen Methoden und Stilen beim Erweitern meines Horizonts, wenngleich dies auch nicht immer mit Wohlwollen kommentiert wurde. Im Mittelalter wurden die Falschgläubigen der Häresie bezichtigt und kamen vor´s Inquisitionsgericht. Ich weiß, das klingt überzogen, aber prinziell gibt es da wenig Unterschied: Glaubensfragen statt Überzeugung durch Fakten.

ohne Schweiß kein Vorankommen – 80er Jahre

Was ich aber letztlendlich verstand ist, dass im sogenannten modernen Budō, also dem was uns gemeinhin so geboten wird, aus prinzipiellen Gründen keine Geheimnisse bezüglich ihrer Wirksamkeit geben kann, denn im Falle des Karate wurde ja alles „Gefährliche“ im Laufe der Reformen ab Anko Itosu entfernt. Auf dass wir uns sehr wohl wehtun können, aber nicht umbringen. Durch das Studium des bereits erwähnten Buches von Henry Plée wurde mir dies noch einmal auf bittere Weise bewusst. Trotzdem hat selbiges mir geholfen endlich wenigstens einen Überblick zu finden von all dem was es einmal gab. Natürlich bin ich weit entfernt davon die Informatonen des Buches in irgend einer Form sicher anzuwenden. Zumindest wusste ich aber nun wie es nicht geht, nämlich so wie es gemeinhin unterrichtet wird. Die bekannte Kobudō- und Nahkampfexpertin Katherine Loukopoulos hatte uns weit früher schon auf einem Seminar, das wir selbst veranstaltet hatten, ganz klar und offen darauf hingewiesen, dass wir eben keine Methode des Kampfes (mehr) üben sondern eine Kunst: „Forget about real combat; you are practicing an art !!!“… Dieses Erlebnis hatte mich angeregt über all das nachzudenken und war für mich der Begin einer kontemplativen und nun leider von Zweifeln geprägten Praxis.

kann auch Spaß machen: Partnerübungen im Iaido

So begann ich irgendwann vermehrt aus all dem zum Teil widersprüchlichem Wissen für mich etwas Persönliches zu machen und mich von den strengen Vorgaben meiner Ryuha allmählich zu lösen, im Sinne von Shu-Ha-Ri (ich widmete diesem Thema bereits einen Beitrag). Zwar betreibe ich offiziell weiterhin Shito-ryu, doch stellt selbiges nur den Rahmen für mich dar, in dem ich alles an physischer Kampftechnik einordnen kann, gleichsam das Terrain, auf dem ich mich bewege. Dinge wie Technik oder deren Methoden der Übung, die mir zuträglich erscheinen und nicht konträr zum bisher Erlernten stehen, finden darin ihren Platz. Denn solange man nicht Neues probiert, kann einem auch keine Bereicherung zuteil werden. Hierzu gehört u.a. die Suche nach den Originalen, also nicht bloß älterer Versionen bekannter Kata, wie z.B. Naifanchin oder Rohai, sondern etwa die Frage danach was die Leute damals bei der Übung wohl empfanden. Oder: Wie war deren Einstellung allgemein zur Übung? Es nützt nämlich nicht viel „antike“ Formen der Kata genauso (rigide) auszuführen wie die konventionellen Versionen von heute. Es ist dies leider eine weit verbreitete Praxis, besonders auf Meisterschaften. Interesssant ist für mich vielmehr was vor 200 oder mehr Jahren im Süden Chinas als effektives Konzept entwickelt wurde, etwa in der Methode des Baihe-Chuan, der Faust des Weißen Kranich. So gebührt mein Dank auch all jenen, die sich die Mühe machten ihre Ergebnsise der Forschung in Büchern zusammenzufassen oder auch entsprechende Beiträge auf Youtube zu veröffentlichen. Bei letzterem ist natürlich Vorsicht geboten, denn eine Garantie der Authentizität ist dort weniger gegeben. Letztlich habe auch ich mitbekommen, dass  detaillierte Information zur Struktur der Kampfkünste mittlerweile viel leichter zugänglich geworden ist. Die Konkurrenz unter den Koryphäen, insbesondere der Meister aus Okinawa machte es möglich.

Ich weiß, das Bild hatte ich schon einmal, aber es passt hier irgendwie.

Am Ende haben sich meine Erwartungen an die Budō-Künste nicht wirklich erfüllt. Ständig lernte ich anderes als es von mir gesucht wurde. Dass etwas anders kommt als vorgestellt, muss nicht unbedingt falsch sein und nicht selten stellt sich dies irgendwann einmal als besser heraus. Auch dass ich durch all die beschrittenen Irrwege viel an Erfahrung gewonnen habe, ist unbestritten. Das Vergangene ist nicht rückgängig zu machen und so kann man nur versuchen aus eigenen Fehlern und denen der anderen zu lernen. Die Blickwinkel ändern sich mit zunehmender Erkenntnis, d.h. mit der rechten Info sieht vieles später anders aus. Inzwischen bin ich auch weniger an physisch bedingter Effektivität im Kampf interessiert, sondern versuche nicht nur bei anderen, sondern ganz besonders in meinem eigenen Inneren etwaige Ursachen für von mir selbst verursachte oder zumindest am Leben erhaltene Konflikte zu ergründen.  Meine jetzige Übungspraxis ist daher geprägt vom Erhalt und der Wiederherstellung der Gesundheit durch die Arbeit hin zu einem frei fließenden Qi. Ich empfehle dies allen, die nicht mehr so ganz jung sind. Denn der ständige Gedanke an Kampf oder die dort nötige Überlegenheit belasten das Gemüt, was einen nur unnötig krank machen kann.

Beim Karate handelt es sich aus meiner Sicht um eine ausgewogene Übung für den ganzen Körper, die jeden Muskel stimuliert und den Übenden fordert. Es dient der Gesunderhaltung und kann sogar zu einem gewissen Grad körperlichem Verfall vorbeugen. Die verbesserte Koordination und die erworben Kraftreserven ermöglichen schnelle Reaktion in Extremsituationen, aber ich sehe es mittlerweile als weniger geeignet für den realen Kampf, z.B. auf der Straße oder in der U-Bahn(!). Der kulturell-historische Hintergrund kann jedoch durchaus eine Faszination ausüben, besonders wenn man sich selbst gedanklich in frühere Zeiten zurückversetzt. Als Konsequenz aus all dem habe ich mich weitgehend zurückgezogen von dem üblichen Trainingsbetrieb und widme mich vornemlich der eigenen Praxis, was Bu- ja wohl eigentlich bedeuten soll.

Eine Anmerkung über den Schluss hinaus: Ich habe diesmal vollständig auf das Gendern verzichtet und werde es in Zukunft weiter tun. Die deutsche Sprache leidet durch selbiges nur unnötig und Respekt zeigt sich auf anderer Ebene. Ich bin also keineswegs einem rückwärtsgewandten Bushidō-Machismus verfallen!

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Blick zurück im Budo – Teil 1

Der Titel mag ein wenig nach „Look back in Anger“ klingen, einem Schauspiel des Schriftstellers Oscar Wilde. Ob nun wirklich Zorn aus meinem geschriebenen Wort hörbar sein wird, obliegt wohl auch dem Geschmack der geneigten Leser.

Wer allmählich „in die Jahre kommt“, verfällt mitunter vermehrt in Gedanken und entwickelt Fragestellungen danach „Wie konnte das alles nur so weit kommen?“. Das kann positiv gefärbt sein, sofern man mit der Ergebnissen des eigenen Lebens zufrieden ist, oder auch, und das nicht allzu selten, bittere Passagen aufweisen. Was das meine betrifft, so verlief es ganz und gar nicht so wie meine Eltern oder ich es damals in den 70ern gerne geplant hätten. Aber da stehe ich wohl nicht alleine da. Wer sich dem Budō widmet, gerät auf eine Bahn, die nicht unbedingt „schief“ sein muss, die aber doch bisweilen außerhalb der jeweiligen kulturellen und sozialen Konventionen verläuft. Auf dem Weg des Budō kommt es immer wieder zu Situationen wo einem das Setzen von Prioritäten abverlangt wird. Fragwürdige Entscheidungen werden getroffen, wie in meinem Fall die Suche des Arbeitsorts nach der Frage, wie und wo kann ich meine Trainingspraxis ungestört hätte fortführen können.

Besuch in Wien

Mein persönlicher Rückblick ist denn heute auch nur wenig geprägt von Äußerungen á la „wenn ich jünger wäre, würde ich alles wieder genau so machen“. So etwas kann ich von mir nicht behaupten. Aus dem nun Folgenden wird einiges hervortreten, was sonderbar klingen mag, für jemanden, der sein Leben lang dem Weg der Kampfkünste folgte und sogar einiges von (so hoffe ich) literarischem Wert auf den Markt gebracht hat. Nein, mein persönlicher Rückblick soll eher eine Zusammenfassung mit logischem Schluss darstellen und darlegen inwieweit sich meine Erwartungen an den Budō bzw. die Kampfkünste Japans erfüllt haben und wie groß die Entäuschung am Ende ausfällt. Mit letzterem Wort hätten wir ein wesentliches Stichwort, denn zur Wegnahme der Täuschung – nichts anderes besagt ja die Vorsilbe „ent-“ – müssten wir zuvor getäuscht worden sein. Täuschung beruht auf falschen Eindrücken, seien sie sensuell hervorgerufen oder durch Fehlinformation verursacht. In unangemesserer Überzeugung richtet wohl mancher sein Tun so nach Idealen oder Werten aus, die dann ein anderes Ergebnis bringen als erhofft oder erwartet.

Das Prinzip der Täuschung wird in der Kunst des Kampfes bewusst angewandt um den Gegner bzw. Feind in die Irre zu leiten, was einem dann zu einem strategischen Vorteil gereicht, wenn nicht sogar den Sieg bringt. Aber davon soll hier nicht die Rede sein. Ich möchte darlegen wie ein falsches Bild über eine bestimmte Sache wie etwa der Kampkunst zu absurden Handlungsweisen führen kann. Mein Freund und ehemeliger Trainingskamerad aus S.K.I.-Zeiten Wolfgang Herbert hatte sich in einem Essay sehr ausführlich dazu geäußert, wie gerade in Japan die Praxis der Budō „artfremd“ und widersprüchlicher nicht sein kann. So werden von ihm u.a. barbarisch anmutende Auswüchse an einigen Elite-Universitäten erwähnt, die zeigen, dass von vielen der dortigen Kapazitäten das Wesen des Budō, nämlich das Lösen von Konflikten, noch nicht einmal im Ansatz erfasst wurde. Denn wenn man das eigene Metier nicht beherrscht, nützt es auch wenig zu behaupten wir Europäer würden den „wahren“ Budō eh´ nie verstehen.

Zeiten des Fortschritts?

Wie viele andere Kameraden auch war ich lange Zeit der Überzeugung, das ganze autoritäre Gehabe im traditionellen Karate wäre Grundlage für die Übermittlung einer effektiven Kampfmethode. Nach dem Motto, wenn der Meister bei guter Laune ist, dann lässt er uns wohl an seinem Schatz geheimer und sicherer (!) Kampftechniken teilhaben. Aber weit gefehlt! Nicht dass die „Meister“, denen ich begegnete nicht gewollt hätten. Nein, heute meine ich zu wissen, dass sie über jene Geheimnisse gar nicht verfügten, einfach weil sie ihnen nie mitgeteilt wurden. Das heißt nun nicht, dass es jenes interne Wissen nicht gäbe, aber das von Anko Itosu im Ende des 19. Jahrhunderts propagierte Konzept der Tōde-/Karate-Ausbildung sah so etwas einfach nicht mehr vor. Eine harte körperliche Ertüchtigung war angesagt, um starke junge Leute und somit potenziell „tapfere“ Soldaten hervorzubringen. Ich würde da gerne noch hinzufügen: … die einiges abkönnen und keine unnötigen Fragen stellen.

Aber nicht nur das Karate, praktisch alle allgemein angebotenen und damit stark verbreiteten Budō-Künste aus Japan wurden nach diversen Überarbeitungen von allem Effektivem und Nutzbringendem befreit. Wirkliche Effizienz sucht man dort daher vergebens. Gewiss tun sich uns seit kurzem Quellen der Information auf, die durchaus zu einem anderen Bild führen können und eine wirklich effektive Form der Selbstverteidigung in Aussicht stellen. Ich meine die von mir schon mehrfach erwähnten Studien zu vitalen Zonen, etwa anhand von „Ausflügen“ in ganzheitliche Medizinsysteme. Im konventionellen Budō jedoch findet man allenfalls verbale Hinweise, dass so etwas wohl von früher her überliefert sei und sowieso mehr ins Reich der Legenden gehöre. Aber nun doch zu meinem persönlichen Weg des Getäuschtwerdens.

spektakulär, aber kaum tödlich, dafür aber um so herzlicher: Sensei Akio Nagai

Ich begann im Alter von 11 Jahren mit dem Judō. Damals gab es immer mal wieder Szenen im Kino oder in TV-Produktionen zu sehen, bei denen durch eine mysteriöse Methode aus Japan die „Bösen“ leicht zu Fall gebracht oder sonst wie paralysiert wurden. Die Betonung liegt dabei auf „mühelos“. Es hieß dann, man müsse die entsprechende „Griffe“ nur richtig gezeigt bekommen, und schon würde es einem gelingen sich sicher zur Wehr zu setzen, wobei die Niederlage des Agressors gleichsam garantiert war. Dass Derartiges jahrelange Übungspraxis bedarf wurde aber nie erwähnt. Später kamen dann die „tödlichen Schläge des Karate hinzu, welche bevorzugt mit der Handkante auszuführen waren.

Als Kind wurde ich immer wieder mal „gehauen“, wie es damals hieß. Die Hauer waren oft älter als ich. Aber nicht immer, meist handelte es sich einfach nur um Idioten, denen ich im übrigen gerne einmal heute begegnen würde. Dass Streitereien unter Kindern bisweilen gewaltsam ausarten ist, so meine ich, bis zu einem Grad als „normal“ anzusehen. Der Mensch trägt nun einmal bedingt durch die Entwicklungsgeschichte die Bereitschaft zur Gewalt in sich – auch wenn von gewisser ideologischer Seite gerne Gegenteiliges behauptet wird. Aber schon damals war mir irgendwie die Sinnlosigkeit jenes Gehauenwerdens klar. Zudem war ich ein eher schüchternes Kind, auch wenn Leute, die mich heute kennen das  kaum glauben würden.

Sensei Fujinaga mit Rainer Kummerfeldt

So bot sich mir das Judō an, von dem damals häufig von geredet wurde, ohne dass  jemand so richtig wusste worum es da geht oder wie es funktioniert. Ich beschloss jene geheimnisvolle Kunst aus Japan endlich selbst zu erlernen, um auf zukünftige Übergriffe uneinsichtiger Zeitgenossen besser vorbereitet zu sein und begann im Grundkurs der Kindergruppe des Lübecker Judo Club e.V.. Um die 60 kleine bis mittelgroße Teilnehmer von 6 bis 12 Jahren kamen einmal die Woche zum nachmittäglichen Unterricht. Wir mussten zuvor noch die Matte (Tatami) aufbauen, was allzu oft unnötig lange dauerte, weil die Mehrzahl der Mitschüler gar nicht wirklich am Unterricht interessiert war (das Problem gibt es im Kindertraining bis heute) und es darum vorzog lautstark herumzutoben.

Bei den Älteren fand ich hingegen einige Mit-Interessierte von gleicher Motivation. Man bemerkte daher auch unser im Vergleich zu dem Rest technisch schnelleres Vorankommen, was dazu führte, dass man uns gleich nach der Prüfung zum gelben Gurt in die Gruppe der Anwärter für die Kampfmannschaft steckte. Dort wurde fast eine volle Stunde auf Kondition gemacht, d.h. Liegestütze, Rumpfbeugen u. dgl. mehr als sinnvoll Erachtetes ohne Ende. Und dann kam Randori (Übungskampf) gegen die, welche schon länger dabei waren, was auch nicht gerade Mut machte. Eine vermeintlich ur-japanische Übungsmethodik. Gelernt wurde so aber praktisch gar nichts und dass einem etwas im Detail gezeigt wurde, war die Ausnahme

Somit war für mich der falsche Weg zunächst einmal vorbestimmt. Denn ich ich dachte tatsächlich, all das wäre so richtig und würde mich eines Tages zu einem Könner der Verteidigung machen. Aber mit der Zeit merkte ich dann, dass Judō wohl zumindest für mich nicht so die rechte Methode war. Die „tödlichen Schläge“ sollten es lieber sein. Dazu musste ich aber noch warten bis ich sechzehn Jahre alt war. Karate für Kinder? Damals undenkbar, weil viel zu gefährlich! … Naja, die damalige Trainingsmethodik rechtfertigte durchaus solch eine Regelung. Da wurde ebenfalls ohne Ende auf Kondition und Kraft trainiert. Dann wurde der Körper abgehärtet, besonders indem wir uns gegenseitig auf den gespannten Bauch schlugen. Technische Details waren eher unerheblich. „Wir wollen Einsatz sehen“ hieß es als Motto für die Kyu-Prüfungen.

Parallel zu dem was sich da so Karate nannte ging ich auch zum Training einer Selbstverteidigung mit dem Namen Jujutsu. Allerlei Abwehren gegen Angriffe wie „Würgen eine Hand und Schlag“ oder „Stockschlag von oben einhändig“ wurden dort eingeübt, wobei der angreifende Partner jeweils geduldig alles zu seiner Niederlage Beitragende mitmachte. Es sollte eine Kombination sein aus dem „Besten“ von Judō, Karate und Aikidō, was im ersten Moment sogar plausibel klang. Nun blicke ich jeoch auf eine 50jährige Karate-Übungspraxis zurück und könnte immer noch kaum Angaben zu den irgend welchen „besten Techniken“ machen. Wie konnten das nur die Schöpfer des Jujutsu? Allesamt Genies? Gewiss, einem selbst geht die eine Technik besser von der Hand (oder vom Fuß) als die andere, aber kann man das verallgemeinern? Überhaupt sehe ich es als wenig sinnvoll an, eine Technik aus dem Kontext der jeweiligen Kampfkunst zu nehmen und zu behaupten sie wäre gut oder schlecht im Sinne von effektiv, einfach zu lernen oder sonstwie vorteilhaft. Kommt es doch viel mehr auf den Ausführenden an ob eine Bewegung zum gewünschen Ergebnis, eben den besiegten Angreifer, führt oder nicht. Dabei will ich gerade den Fixierungen aus Judō und Aikidō gar nicht ihren Wert absprechen, nur wie gesagt, ob tauglich für Auseinandersetzungen außerhalb des Dojos? – man weiß es nicht. Ich verließ daher nach einiger Zeit diese Art von Training wieder.

Weit her war es sowieso nicht mit der Kapazität der meisten der mir damals zur Verfügung stehenden Lehrkräfte. Und so bin ich an dieser Stelle auch so ehrlich zuzugeben, dass ich mir die nötigen Inspirationen, d.h. Vorstellungen wie es auch gehen kann, aus dem Kung-fu im Kino geholt habe. Dort habe ich denn auch schon Kobudō-Waffen gesehen und war fasziniert davon. Die Anschaffung war jedoch nicht einfach und so habe nicht nur ich es mit dem Eigenbau versucht. Bei Nunchaku oder Tonfa mochte das noch gelingen, aber beim Sai? Zum Glück lief um Fernsehen die Serie „Kung-fu“ mit David Carradine. Viel zu staunen gab es da für mich nicht, aber es bildete sich durch ihre Popularität allmählich ein Markt für entsprechende Übungsutensilien (von minderer Qualität).

Später nach der Bundeswehr ging ich zum (Chemie-)Studium nach Kiel. Ich wollte dort die Gelegenheit nutzen an die Ursprünge der Kampfkunst des Bruce Lee zu gelangen. So begab ich mich zu der schon recht bekannten, von Keith Ronald Kernspecht geleiteten Schule für Wing-Tsun Kung-fu (basiert auf dem Baihe-Chuan). Leider waren die dort zu zahlenden Beiträge derart hoch und für einen „armen“ Studenten unerschwinglich, dass ich es vorzog erst einmal weiter beim Karate zu beiben. In der Gruppe des Sportforums der Universität wurde nach den Richtlinen des Deutschen Karate Bund (DKB) trainiert und man könnte auch heute noch fast sagen, das war fundiertes Shōtōkan. Beim Training in der Kieler Unigruppe war dann auch wenigstens ein wenig mehr Präzision bei der Technik angesagt als wie ich es von früher her kannte. Obwohl auch bei der DKU sich da vieles zum besseren entwickelt hatte. Die Deutsche Karate Union war aus der Sektion Karate im Deutschen Judo Bund hervorgegangen und ich blieb dort noch eine Weile Mitglied um meine Prüfungen zum 1. und 2. Dan abzulegen. Diese sollten nicht die letzten (zum selben Grad) in meinem Leben sein, aber davon später mehr.

wenig Platz, aber die Motivation stimmt – Bad Schwartau Anfang der 80er

Die Leute des Uni-Dojos beriefen sich immer mal wieder auf den damaligen DKB-Bundestrainer Hideo Ochi und so wuchs auch bei mir vermehrt der Wunsch einmal einem „echten“ japanischen Meister gegenüberzutreten. In dem großen Gasshuku 1980 in Kempten konnte ich denn endlich japanische Instruktoren bestaunen. Sogar JKA-Eminenz Masatoshi Nakayama war zugegen. Er zeigte zwar nicht viel, aber zumindest taten dies seine Assistenen. Zu Ihnen gehörte auch Yasuyuki Fujinaga, der damals schon in Wien lebte. Insgesamt war das ganze recht beeindruckend, denn ein Training in riesigen Gruppen mit an die 200 Schwarzgurten kannte ich bis dahin überhaupt nicht. Es gelang uns sogar einen Kontakt zu Sensei Fujinaga aufzubauen, welcher uns dann später an Sensei Akio Nagai und somit an den S.K.I. vermittelte. Ich hatte beiden Meistern hier bereits einige Beiträge gewidmet, daher will ich diesen Teil nicht weiter vertiefen.

Sensei Kanazawa mit Altvorderen des S.K.I.D. –  80er Jahre

Der Wechsel zum von Hirokazu Kanazawa 1977 gegründeten Weltverband namens Shotokan Karate International  brachte lange Zeit gute Resultate. Die Ausbildung im deutschsprachigen Raum bei den Sensei Nagai und Kawasoe war profund und zumindest am Anfang angenehm abwechlungsreich, ja schon fast zukunftsweisend. Allerdings herrschte bei Sensei Nagai ein, wenn auch herzlicher, so doch autoritärer Führungsstil. Ich ließ mich darauf ein in dem Glauben, das gehöre so, und auch in der Erwartung, dass es mir irgend einmal von einer höheren Instanz „gedankt“ würde – Stichwort: Geheimnisse der Kampfkunst. Aber es kam anders. Meine anfängliche Begeisterung schwand allmählich durch das spätere Einerlei auf den Seminaren. Zudem empfand ich persönlich das Karate des Shōtōkan auf die Dauer als begrenzt, insbesondere kam ich mit den teilweise abstrusen Erklärungen bezüglich der in den Kata enthaltenen Bewegungen nicht so recht klar. Auch war ich all des Bushidō-Loyalitätsgehabes überdrüssig. Dass man sich für die eigenen Ideale und Überzeugungen, von mir aus auch verkörpert durch besondere Personen und deren Organisation, einsetzt und versucht andere dafür zu begeistern, ist sicherlich so in Ordnung. Aber nur solange das ganze nicht überzogen wird und in Intoleranz endet,  d.h. der gute Geschmack leidet. Durch die Praxis des Karate-dō sollten die Übenden eigentlich auch zu gutem Benehmen in der Öffentlichkeit kommen, das Gegenteil war aber leider nicht selten der Fall. Dabei wäre doch, so Meister Funakoshi, die Überheblichkeit („Stolz“) Gift für jegliches Vorankommen in der Kampfkunst Karate.

Ein Sprung zurück in die Zeit davor: In Ermangelung halbwegs authentischer Informationen aus direkter Unterweisung suchte ich selbige in der einschlägigen Literatur. Aber auch dort gab es leider nicht allzu viel Auswahl. Obwohl man heute zugeben muss, dass nach den zweifelhaften ersten deutschsprachigen Werken die Bücher von Albrecht Pflüger gar nicht so schlecht gemacht waren. Später erkannte ich, dass als Quelle des Autors das (englischsprachige) Buch von Hidetada Nishiyama diente. Ein wahrer Segen war dann die Publikation des Werkes von Masatoshi Nakayama auf Deutsch. Das „Karate-do“ war längere Zeit Standart und gereichte uns zur grundlegenden Instruktion. Allerdings enthielt es im wesentlichen nur Grundtechnik, jedoch kaum Anwendungen und Kata überhaupt nicht. So diente es denn später eher als Nachschlagewerk und dem Auffüllen von Wissenslücken. Mit den beiden Büchern über die Shōtōkan-Kata von Hirokazu Kanazawa gab es dann zumindest ab den 80er Jahren auch diesbezüglich etwas Ansprechendes.

Was das Kobudō anging, war die Lage noch schwieriger. Das änderte sich als Mitte der 70er Jahre das erste Werk von Fumio Demura mit dem Titel „Nunchaku- Karate  Weapon of Selfdefense“ – natürlich auf English – erschien und in Deutschland sogar relativ leicht zu erhalten war. Auf den Fotos überzeugte mich Sensei Demura derart, dass ich meinte irgendwann einmal unter seiner Anleitung üben zu wollen. Es folgten weitere Bücher und so konnte ich mit Nunchaku, Sai und Bo bald einigermaßen umgehen, von wirklichem Können war ich aber noch weit entfernt. In dem von Dr. Georg Stiebler innerhalb der DKU ins Leben gerufenen Kobudō-Kader gab es eine Zeit lang auch die Möglichkeit der vertieften Übung mit dem nun immer umfangreicher werdenden Arsenal an Waffen. Mit dem Wechsel zum S.K.I. war dies natürlich vorbei. Inzwischen war ich jedoch schon das erste Mal in Kalifornien gewesen (müsste so 1981 gewesen sein) um direkt im Dōjō von Sensei Demura zu trainieren. Ich „wohnte“ 6 Wochen darin und nahm so ziehmlich an allen stattfindenden Übungsstunden Teil, insbesondere denen für Kinder, wo ich dann assistierte, aber dadurch um so mehr lernte, und denen der Anfänger. Ich konnte die erste Woche kaum laufen vor Muskelkater.

Little Tokyo, LA

Etwas vor dieser Reise sah ich Sensei Demura mit seinem Team eines späten Abends im Fernsehen. Er trat neben anderen Kampfkunstexperten auf im Rahmen einer Gedächtnisveranstaltung in Paris für den 1973 verstorbenen Bruce Lee. So etwas wurde mir bis dahin noch nie dargeboten. Welche Brillanz und Dynamik! Nicht jenes bisherige starre Zur-Schau-Stellen von Grundtechnik und vermeintlicher Anwendung oder die Vernichtung von Baustoffen. Die Demo im TV hatte mir geholfen endlich den Wunsch wahr werden zu lassen. Der Entschuß wurde gefasst, es galt ein paar Connections zu nutzen und so war ich in den Winter-Semesterferien auf dem Weg in die Staaten. Zwar hätte es mir wie für manch anderen durchaus nahe liegen sollen direkt nach Japan zu gehen, aber da war mir das Abenteuer doch zu unüberschaubar. Ich hatte keinerlei Sprachkenntnisse und kaum eine konkrete Vorstellung von dem Land und seinen Leuten, also solchen die nicht Karate betreiben – und auch nicht die nötigen „Connections“, welche in Japan wichtiger sind als sonstwo auf der Welt. So wurde Japan aufgeschoben, aber nicht aufgehoben.

meine Schlafecke

Bei Sensei Demura lernte ich eine besondere Facette der Budō-Praxis kennen: das Training kann nämlich auch Spaß machen! Zuvor kannte ich nur den bitteren Ernst der hartwerden wollenden Möchtegernkrieger. Nach meiner Rückkehr habe ich insbesondere diesen Part in meinen eigenen Unterrichtsstil einfließen lassen. Es folgten weitere Besuche bis es mir 1990 endlich möglich war den Meister nach Deutschland einzuladen. Die Unterstützung durch eine Gruppe von mit dem Bisherigen ebenso Unzufriedener in Lübeck machte dies möglich. Das Projekt war erfolgreich, dahingehend dass die Art und Weise von Sensei Demura uns derart überzegte, dass wir beschlossen „dabei“ zu bleiben und seitdem kam der Meister jedes Jahr zu uns. Auf einem meiner Besuche in Kalifornien absolvierte ich dann den 1. Dan Shito-ryu. Ich hatte da mittlerweile den 3. Dan (im Shōtōkan), verliehen von Sensei Nagai, wobei anzumerken sei, dass ich bereits den 2. Dan von der DKU im S.K.I. wiederholt hatte. Und auch bei Sensei Demura folgten dann später erneute Prüfungen zum jeweils 2. und 3. Dan, womit ich im übrigen keinerlei Problem hatte und bis heute nicht habe.

after Day-Class

Als ich das erste Mal aus Amerika zurück war, begann ich auch mit dem Iaidō. Ich hatte dort einiges an Iaidō und Batto-dō zu sehen bekommen. Zudem grassierte unter Budō-Leuten das „Shogun-Fieber“. Zwar hatten in meinem Freundeskreis hier schon einige das Buch gelesen, der Film bzw. die 6teilige Serie kam jedoch erst viel später zu uns. Ein gewisses Glück sollte mir sogar helfen einen adäquaten Lehrer zu finden. In einer verbreiteten Fachzeitschrift erschien ein Artikel über oder von einem gewissen Franz Gaschler. Dieser vermarktete das bei seinem Aufenthalt in Japan gewonnene beeindruckende Wissen auf spektakuläre Weise. Ich war mit meinem Budō-Kameraden Rainer Kummerfeldt auf mehreren seiner Seminare im schwäbischen Weingarten. Später welchselte ich zu Karl-Heinz Lübcke, welcher ebenfalls längere Zeit im Wirkungskreis von Sensei Hakuo Sagawa in Tokyo verbracht hatte und der nach seiner Rückkehr in Reinbek bei Hamburg ein regelmäßiges Training anbot. Er gründete mit Sylvia Ordynsky und weiteren Sagawa-Schülern in Deutschland später eine Interessengemeinschaft mit Namen Hakushinkai, aus der dann der Deutsche Iaido Verband hervorging. Ich habe dort eine Zeit lang bei der Orginasaton mitgeholfen bis meine berufliche Lage dies nicht mehr zuließ.

Karl-Heinz Lübcke

Die von Meister Sagawa vermittelte Praxis des Budō war weit näher dran an einer spirituellen Essenz. Gleichwohl besteht auch das Iaidō technisch im wesentlichen aus Formalismen und Symbolismen, ähnlich einer Zeremonie oder einem Ritus. Aber ganz klar, bei der Übung des Iai handelt es sich durchaus um ein intensives körperliches Training, das einen fordert, besonders beim Unterricht eines Karl-Heinz Lübcke. Und mit dem Schneidetest tameshi-giri gibt es zwar einen gewissen Bezug zur Realität, es fehlt aber in der Praxis auch hier der Aspekt der psycho-emotionalen Konfrontation mit dem Gegner, der vorhat einen zu schaden, wenn nicht sogar umzubringen. Zudem lassen viele der klassisch-überlieferten Iai-Kata Zweifel an ihrer Praktikabilität aufkommen und ihre Deutung bedarf mitunter des weiten Ausholens in die japanische Geschichte bis in die Gesellschaft der Samurai mit all ihren (Un-)Sitten.

Ich mache hier erst einmal einen Schnitt. Dann wird das weitere Lesen – im zweiten Teil – vielleicht weniger ermüdend.

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Zum Jahr des Wasser-Hasen

Endlich! Der Jahreswechsel nach der alt-chinesischen Zählung ist diesmal relativ früh, aber nicht zu früh. Denn von allen, die sich ein klein wenig damit auskennen, wurde er fast schon herbeigesehnt. Das vergangene Jahr des Tigers hatte seinen Ruf voll erfüllt. Es war voller Überraschungen, die meisten von ihnen mit negativer Couleur. Allen voran der barbarische Angriff Russlands auf die Ukraine, verbunden mit all seinen abstrusen Versuchen der Rechtfertigung.

Im Laufe des vergangenen Jahres wurden sicher nicht wenige verleitet zu spontanen Entscheidungen aus Positionen der Selbstüberschätzung und der tendenziell ungenügenden Kalkulation der möglichen Konsequenzen – so geschehen durch unseren geliebten Führer … Entschuldigung, es sollte heißen: „Freund“ in Moskau.

Flying Stars Übersicht für das anstehende Jahr; zwecks Details siehe Original Website: „Mega Feng Shui Shop“

Auch häuften sich weitere „Überraschungen“, wie das Chaos an deutschen Flughäfen und das Desaster bei der Deutschen Bahn. Eine solche ist mir persönlich zu allem Überfluss noch zum chinesischen Jahresende widerfahren, indem ich mir rechtzeitig zum dritten Advent mir einen dieser Viren einfing. Ein Infekt, der mir die letzten Freuden an Weihnachten vergällte, mich für mehrere Wochen schwächte und mir die Lust auch an sonst allem nahm. Und damit hätte ich beinahe sogar den passenden Moment verpasst diesen Kommentar einzustellen.

So will ich denn wieder versuchen wie in jedem Jahr an dieser Stelle ein paar, so hoffe ich, sinnvolle Worte zum Jahreswechsel zu formulieren, wobei ich wieder hie´ und da von anderen Autoren einiges abgekupfert habe (so ehrlich sollte man sein, denke ich).

Nach der altchinesischen Astrologie beginnt am Sonntag, dem 22. Januar das Jahr des Wasser-Hasen, welches am 9. Februar 2024 enden wird. Der Hase gilt als besonders feinfühlig, sensibel und harmoniebedürftig. Er umgibt sich gerne mit den schönen Dingen des Lebens, hat sogar einen gewissen Hang zum Luxus und neigt ab und an zum Träumen. Dabei sind Hasen auch gute Diplomaten, können vermitteln oder gar Streit schlichten. Sie sind romantisch veranlagt und streben nach totaler Harmonie.

ein Wasser-Hase

Das Jahr des Hasen wird in seinem Verlauf somit eher mild und sanft, was für uns auch unbedingt nötig ist nach all der explosiven Kraft des Tigers und deren Auswirkungen. Wir können uns nun ein wenig zurückziehen, für uns selbst sorgen und uns von den Herausforderungen des vergangenen Jahres ausruhen. Die Kraft des Hasen ist, wie schon erwähnt, die Diplomatie, und nicht die schiere Gewalt.

Im Jahr 2023 wird der Hase, dessen festes Element das Holz ist, von der Wandlungsphase Wasser beeinflusst. Das Wasser steht nochmals für Stille und Rückzug, aber auch für Stärke und Mut. Das Wasser-Element lässt den ohnehin schon sensiblen Hasen noch gefühlvoller und empfindsamer werden.

Wer kennt ihn noch? Der Hase Cäsar – Biddeschööhn!

All das betrifft uns alle und so bleibt zu hoffen, dass auch in Wirtschaft und vor allem Politik die Verantwortlichen*innen (haha!) vermehrt einfühlsam und verständnisvoll vorgehen. Kompromissbereitschaft wäre das Stichwort. Dem Weltfrieden wäre dies überaus zuträglich. Bleibt aber auch zu hoffen, dass unser derzeitiger Kanzler nicht wie bisher derart „harmoniebewusst“ abwartet und die dringend nötigen Entscheidungen hinauszögert.

Persönlich habe ich die letzten Jahre ziemlich ereignisreich verlebt und bin der Überraschungen allmählich überdrüssig. So hoffe ich nicht nur für mich, sondern für alle Besucher dieser Website, dass nun auch das Jahr des Hasen seinem Ruf mehr als gerecht wird.

 

 

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Weihnachten und Budo: Back to the Roots?

Um die wenn auch nicht allzu zahlreichen Leser dieser meiner Website nicht zu enttäuschen, habe ich mich entschlossen doch noch einige besinnliche Worte zum anstehenden Fest zu formulieren. Bezüglich der Praxis des Budō wurde hier ja schon praktisch alles in seinen Variationen erwähnt, vieles sogar wiederholt. Und auch bezüglich der eigentlich unsinnigen Verquickung von Budō und Weihnachtsbräuchen wurde schon alles gesagt, was ich persönlich davon halte. Darum erlaube ich mir diesmal ein wenig mehr auszuschweifen.

der etwas andere Santa

Gewöhnlich begeht begeht man/frau mit zunehmendem Alter die Adventszeit und auch den Übergang zwischen den Jahren, sei es nun nach dem modernen oder dem klassisch-chinesischen Kalender, zunehmend kontemplativ. Es wird zurückgeschaut, auf vergangene Zeiten, das eigene Leben auf Schönes und weniger Angenehmes. „Erfahrung“ währe ein Stichwort.

So muss wenigstens ich mir zugestehen, dass meine Budō-Praxis nicht immer so voll zuträglich war wie erwartet. Probleme hatte ich mit der Berufskarriere und später auch mit der Gesundheit. Und die Früchte des Tuns wurden in der Regel nur allzu hart erarbeitet. Zumindest hatte ich frühzeitig genug Impulse (von außen), die mich dazu brachten selbiges zu hinterfragen. Trotzdem wurden nicht nur von mir zahlreiche Fehler begangen, welche sich erst viel später als  körperliche Beschwerden manifestierten.

Martin Luther

Zum Glück konnte ich Dank meiner zwei Berufe, nämlich Chemiker und Naturheilkundler, so manchen Irrweg rechtzeitig erkennen, und zwar nicht nur was die Übung selbst angeht, sondern auch Bereiche wie etwa eine angemessene Ernährungsweise. Empfehlungen und Vorschriften gibt es da immens viele, wobei diese sich einander oft widersprechend. Die Lösung war dann meist der eigenen Intuition zu folgen. Das mag einfach klingen, aber die Intuition, das Agieren aus dem Bauch heraus ist in unserer heutigen Zeit oft blockert, da wir von rational-mentalen Handeln dominiert sind.

Eine Praxis der inneren Übungen, ich meine hiermit solche die sich vornehmlich mit der Kultivierung des Qi bzw. Ki befassen kann hierbei helfen. Auch eine gewisse Distanzierung von dem „bewährten“ Wissen kann nützlich sein, etwa in der Fragestellung, wo es denn eigentlich herkommt und wie gesichert dessen Erarbeitung in der Vergangenheit war.

Udo Pollmer

Udo Pollmer

Martin Luther tat dies indem es die Evangelien derart studierte, dass es sie fast auswendig kannte (womit wir nun endlich ein kirchliches Thema wenigigstens streifen). Ähnlich kontrovers werden die „Thesen“ des mittlerweile recht bekannten Autors zu Themen der „gesunden Ernährung“ Udo Pollmer gehandelt. Seine Äußerungen in Wort und Schrift pflegen in allerlei Kreisen von Experten auf widerspruch zu stoßen. Fast wie im ausgehenden Mittelalter bei Martin Luther, es fehlt nur noch das Wort „Häresie“. Beide Herren ähneln einander ein wenig in ihrem äußeren Erscheinungsbild, mehr jedoch in ihrem Anliegen, nämlich im Angehen gegen von oben herab verordneter Richtigkeit oder gepachtete Wahrheiten. Allerdings ist die Ausdrucksweise Udo Pollmers weniger drastisch und somit meist angenehmer als die des Martin Luther.

Ich kann die Lektüre von Pollmers Werken nur wärmstens empfehlen. Sie öffnet den Horizont nicht nur für die besondere Thematik, sondern machen einem auch ein flexibles, weniger dogmatives, und zudem humorvolles Herangehen an andere Bereiche des Lebens attraktiv. So zum Beispiel jetzt bezüglich der Befreiung von Konsumdruck und erzwungenem Glücklichsein.

vorweihnnachtliche Besinnlichkeit

Für eine tiefe Zufriedenheit auch zu Weihnachten gilt es aus meiner Sicht sich von Zwängen befreien im Sinne von „weniger ist mehr“. Wenn ich ihn denn recht verstanden habe, so war auch Jesus Christus unter anderem an einer von Bescheidenheit und Demut geprägten Einstellung gelegen. Und ihm selbst Gedenken wir doch eigentlich an Weihnachten – oder irre ich da? ….

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Budo und der innere Schweinehund

Schwein mit Hund

„Den inneren Schweinehund überwinden“ ist ein noch gar nicht so alter Ausdruck. Er bezieht sich auf den Brauch bei der Jagt von Wildschweinen besondere Hunde einzusetzen, welche selbige umherhetzen und damit ermüden sollten, so dass sie für den Waidmann selbst keine so große Gefahr darstellten und er sie leichter erlegen konnte. Der innere Schweinehund sorgt bei uns demnach für vorzeitige oder unangemessene, vor allem mentale Ermüdung. Er bewirkt die Unlust. Es handelt sich somit um eine negative Gefühlsregung.

Schon der normale Übungsalltag kostet bisweilen Überwindung. Und mit zunehmendem Alter nimmt der naturgegebene Bewegungsdrang eines Menschen zusätzlich ab. Andererseits steigt bei einem selbst die Ernsthaftigkeit einer Sache gegenüber – oder zumindest sollte es so sein. So wandelt(e) sich die Übungspraxis vom mitunter doch oberflächlichen Spaßgeschehen zur Arbeit an der eigenen Person mit zielgerichteter Verbesserung der eigenen Fähigkeiten, im Falle der Kampfkünste in Richtung einer perfektionierten Technung und deren Anwendung.

Dabei war der Sommer schon immer besonders problematisch. Viele Dojos und Vereine gehen in die Sommerpause. Dabei betragen die Ferien in Deutschland „nur“ 6 Wochen. Trotzdem wird die Trainingsmoral in deren Erwartung und Vorfreude im Vorfeld schon recht flau. Danach müssen viele sich erst einmal wieder daran erinnern, dass Training angesagt ist und so vergehen insgesamt bis zu 8 Wochen ohne Übungpraxis. Jedwede Kontinuität ist verloren gegangen.

Übung an frischer Luft

Besonders in der Stufe der Anfänger „vergessen“ die Teilnehmer während der langen Pause  einen großen Teil des mitunter mühsam Erlernten und müssen sich selbiges nicht selten neu erarbeiten. So vergeht unterm Strich viel Zeit nicht erreichten Fortschritts. Gewiss, wer schon länger dabei ist, kommt wohl schneller wieder ´rein in die Materie. Der Körper reagiert aber trotzdem mit schmerzhaftem Muskelkater infolge der ersten Übungsstunden nach den Ferien. All das ist schade und bei geschickter Organisation bis zu einem gewissen Grad sogar vemeidbar.

Statt bei Sommerhitze in einer stickigen Halle zu trainieren, kann man/frau dies ohne weiteres draußen tun. Es ist dabei jedoch einiges zu beachten. Während wir drinnen ohne Bedenken nach japanischer Sitte barfuß üben, so ist dies auf Rasen, Sand oder Betonplatten nur bedingt möglich. Gras ist gerne mal rutschig und durch Unebenheiten oder kleine Steine kann es auch zu Verletzungen kommen. Die gesamte Bewegung muss dem Untergrund angepasst werden, eine gute Schulung für Balance und Koordination. Beim  Training am Strand ist sogar der Übergang ins Wasser möglich. Besonders beim Kumite gibt es dann interessante Erfahrungen durch die neue Langsamkeit beim Vor- und Zurückgehen oder beim Ausweichen.

Anpassen an das Terrain

Starke Hitze stellt erhöhte Anforderungen an den Kreislauf. Durch vermehrtes Schwitzen verlieren wir mehr Flüssigkeit als sonst. Wir sollten daher nicht so forsch üben wie gewohnt und etwaige Gewissensbisse eines nicht genügend harten Trainings abtun, denn Nicht-Trainieren wäre ja sonst oft die Alternative. Somit empfiehlt es sich vielleicht den Schwerpunkt vermehrt auf Kata zu legen oder beim Kumite sich der Feinarbeit zu widmen – alles mit gemäßigter Bewegungsintensität. Auch spirituell anmutende Ansätze wie Reaktionsübungen (Iai) bieten sich an. Nur ist darauf achten, dass das ganze nicht allzu esoterisch ausartet.

unebener Boden

Was die Kleidung betrifft, so  lernte ich mit den Jahren die Eigenschaften des klassischen Karategi gerade bei Hitze immer mehr schätzen. Der Stoff der besseren Modelle wurde für subtropisches Klima in Japan und besonders Okinawa konzipiert. Ich sah dann allmählich auch davon ab mich vorübergehend der Jacke zu entledigen. Das Gewebe nimmt den Schweiß optimal auf und gibt die Feuchtigkeit nach außen hin ab, was einen subtilen Effekt der Kühlung bewirkt. Und wenn es ein hochwertiges Stück (etwa von Kamikaze oder Shureido) ist, so klebt der Stoff auch nur wenig auf der Haut.

Vermehrtes Schwitzen führt natürlich zu hohem Verlust an Körperflüssigkeit, die es ersetzen gilt. Allerdings bin ich für mich selbst und auch als Trainer nicht dafür, dass während des Übens getrunken wird. Das Wasser wird nur unnötig direkt wieder ausgeschwitzt, was für mein Empfinden sehr unangenem ist und zusätzlich belastet. Nach dem Training sollte Kaltes und Süßes gemieden werden. Schon Meister Funakoshi hatte empfohlen im Sommer Warmes zu tringen. Ich hatte diesen Rat früher des öfteren auf Seminaren im Sommer beherzigt, indem ich statt des üblichen heftigen Lunks aus der (kalten) Mineralwasser-Buddel lieber kleinere Portionen warmen Wassers aus der mitgbrachten Thermoskanne zu mir nahm. Der Durst verging deutlich schneller.

Meister Funakoshi´s Art der Anpassung: Geta

Im übrigen kann der menschliche Körper auch bei starker Belastung durchaus 1 bis 2 Stunden ohne ständige Wasserzufuhr auskommen. Das Blut befindet sich ohnehin in den Muskeln und fehlt daher in den Verdauungsorganen. Werden diese durch Zunahme von Nahrung – und dazu gehört Wasser letzlich auch – gefordert, kommen die Körperfunktionen aus dem Gleichgewicht. Aber um es richtig herüberzubringen: in klar gesetzten Pausen in Ruhe sehe ich es nicht als falsch kleine Mengen (idealerweise isotonische) Flüssigkeit zu sich zu nehmen oder eben das bereits erwähnte warme Wasser.

Letzlich meine ich, dass auch bei großer Hitze das Training weitergehen sollte, wenn nur Intensität und Inhalt angepasst werden. Dies entspricht am Ende auch den Prinzipien des Budō, nämlich mit wenig Aufwand maximale Efektivität zu erreichen. Insofern gilt es auch im Sinne von isshokenmei ni ernsthaft alles zu geben, jedoch zugleich mit Vernunft unter der Maxime muri o shinai yō ni – ohne das Unmögliche zu wollen. Der innere Schweinehund verliert dann zu einem nicht unerheblichen Maß seine üble Eigenschaft, nämlich uns daran zu hindern aktiv zu werden oder zu bleiben.

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Karate-Irrtümer – gibt es richtig oder falsch?

Zum chinesischen Neujahr vor knapp einem halben Jahr hatte ja auch ich einige Anmerkungen gemacht zum Jahr des Tigers, u.a. dass es Überraschungen geben würde. Dass diese derart heftig ausfallen, hätten wohl die wenigsten von uns erwartet.

Fritz Nöpel stellte vieles Überkommene in Frage.

Bei Betrachtung der derzeitigen weltpolitischen Lage erscheint mir (einmal mehr) vieles absurd und ohne logische Kohärenz. All diese populistischen Argumentationen werden mir zusehens unerträglich. Da wird indirekt angedroht, dass die Oma im Winter im Kalten sitzen zu muss, während an anderer Stelle weiterhin Lebensmittel aus Überschuss, mangelner Ästhetik oder wegen des abgelaufenen Verfallsdatums vernichtet werden. – Und ja, es gibt da einen Zusammenhang! Ich will ihn hier nur nicht erörtern …

Informative Abgrenzung soll gewährleisten, dass niemand darauf kommt, dass etwas falsch läuft. Insbesondere totalitäre System mach(t)en zur Genüge Gebrauch davon. Aber wie weit dieses Konzept in der menschlichen Gesellschaft tatsächlich verbreitet ist bzw. praktiziert wird, das hat mich gerade in der letzten Zeit ganz besonders erschüttert.

Nicht nur was die letzten Ereignisse angeht, auch in anderen Bereichen des Daseins hatte ich schon immer Zweifel an dem ständig verbal Wiederholten. Kaum auszunehmen dabei die Praxis des Budō, oder zumindest das was wir gemeinhin dafür halten. Der angeblich so spirituelle Weg soll ja aus einer immer währenden Suche bestehen, d.h. nie zu einer absoluten Gewissheit führen. Ob es dabei eine Wahrheit als solche gibt, kann bezweifelt werden.

Meister der alternativen Wahrheiten

Auf meinen bersönlichen Karate-Weg bezogen bedeutet dies, dass sich bisher jede neu auftuende, alternative Sichtweise als unzureichend erwies und wohl auch in Zukunft erweisen wird. Bei meiner Suche nach einer effektiven Methode zur Verteidigung bin ich so letztendlich gescheitert. Aber dies nicht aus eigenem Unvermögen heraus, sondern weil es sie gar nicht gibt. Und schon gar nicht, wenn man bei seinem Bemühen auf der rein technischen Ebene bleibt.

Wie schon der geniale Stratege Sun Tsu vor mehr als 2000 Jahren erkannte, liegt jedwedem Kampf eine mental-emotionale Problematik zugrunde. Es wäre also sinnvoll zu fragen wieso es überhaupt zum einem Konflikt kommt. Und meistens eröffnet sich aus solch einer Analyse schon der strategische Lösungsansatz in Richtung Sieg. Ähnlich wie in der Medizin die korrekte – und vollständige! – Diagnose die angemessene Therapie nahelegt.

Gyaku-zuki, wie hier von Sensei Yasuyuki Fujinaga gezeigt, wird nach wie vor für die „stärste“ Technik des Karate gehalten.

Wenn auch in den Folgen weit weniger brisant wie in Politik und Wirtschaft, so zeigt doch die persönliche Rückschau ähnlich geartete mentale Entgleisungen in der Budō-Szene. Mit abstrusen Argumenten wird versucht andere Kampfkünste bzw. deren Stile schlechtzureden, mit dem Ziel den eigenen als den „besseren“ aufzuwerten. Und wenn die Technik nicht herhalten kann für den Vergleich, so ist es dann die moralische Einstellung der Praktizierenden, die überlegenere Kampfkunst-Organisation. Die Meister, bzw. die als solche bezeichnet werden wollen, fürchten um ihre Legitimation und sorgen sich letztlich auch davor, dass ihre Schüler sie verlassen könnten, verbunden in den meisten Fällen mit dem Verlust finanzieller Einkünfte.

Dabei respektiere ich durchaus zu einem gewissen Grad ein gesundes (!) Konkurrenz-denken, ohne welches ein stetiger Fortschritt auch in der Kampfkunst kaum möglich wäre. Es muss nur der gute Geschmack gewahrt bleiben und  wichtiger noch, man sollte ehrlich mit den anderen und sich selbst dabei umgehen. Altkanzler Helmut Schmidt hätte das hanseatisch „anßtändich“ genannt.

Seiken, die heutige Standartfaust war früher wohl gar nicht so üblich.

Mit dem Blick zurück ist das überhaupt so eine Sache. Fast beneide ich all die Leute, die von sich behaupten im Leben alles richtig gemacht zu haben und bei sich keinerlei Fehler sehen, die sie bereuen könnten. Viele dieser Personen trafen denn wohl auch immer die der jeweiligen Situation angemessenen Entscheidungen. Ich freue mich für sie, auch wenn es bei mir leider nur allzu häufig anders war. Und beim Aufkommen jener subtilen Neidgefühle gelangt dann die aus der Praxis des Budō geforderte Duldsamkeit das eine oder andere Mal an ihre Grenzen. Für meinen Teil würde ich wünschen vieles in meiner eigenen (Budō-)Vergangenheit anders gemacht zu haben.

Mir ist schon klar, dass es Gerechtigkeit per se nicht gibt. Schon die alten Daoisten hatten das erkannt und somit einen  Grund formuliert, warum der Konfuzianismis mit all seiner von außen her aufgesetzten Moral (wie überhaupt jede Doktrin) scheitern musste. Was mich jedoch in der letzten Zeit immer mehr stört ist, dass wider besseren Wissens, welches aus konsequentem Zu-Ende-Denken oder auch aus bitterer Erfahrung erwachsen könnte, kurzfristigen Heilsversprechern und Demagogen immer wieder Gehöhr geschenkt wird. Unsere derzeit so prekäre Lage ist eine Folge falscher Enscheidungen mindestens der 80er Jahre, wenn nicht sogar der 70er, als namhafte Wissenschaftler begannen vor den Folgen der Schäden für die Umwelt zu warnen. Ich bin es Leid von all den „neuen“ Lösungen zu hören. Man hätte es besser Wissen können, nur dadurch, dass man jene unbequemenen Nachrichten und Infos zumindest zur Kenntnis nahm, was von verantwortlicher Seite her aber kaum geschah …

1984: Motivation durch vorhandene Perspektive

Ich schweife mal wieder ab und ergehe mich in Grundsätzlichem. Denn auch in meiner privaten Budō-Geschichte bin ich regelmäßig irgendwelchen Irrtümern aufgesessen. Lange hatte ich geglaubt, bei den Disziplinen des Budō handele es sich um Methoden der effektiven Selbstverteidigung und insbesondere solche wie Judō und Aikidō benutzen die Kraft des Angreifers gegen ihn selbst. Aber zumindest beim Judō als Sport sieht es ein wenig anders aus. Schlimmer empfinde ich jedoch den Irrtum, dem viele Karateka bis heute aufsitzen. Sie meinen tatsächlich, all ihre Mühen des täglich-beschwerlichen Trainings dienen dem Erlangen einer effektiven Techik, welche richtig angewand den Gegner sicher – „mit nur einem Schlag“ – außer Gefecht setzt.

Vielleicht sollte man noch viel mehr auf ihn hören ..

Später lernte ich dann, dass es um solch Profanes im Budō gar nicht gehe, sondern um „höhere“ Werte. Der wahre Budōka ertrebe die Vervollkommnung seines Charakters. Ich muss gestehen, dass mir bisher nur extrem wenige Beispiele solch mustergültiger Personen begegnet sind. Und dank der Studien und Recherchen meines seit vielen Jahren in Japan lebenden Trainingskameraden und Freund Dr. Wolfgang Herbert weiß ich mittlerweile, dass es den Verantwortlichen im Japan des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts um anderes ging als gute Menschen heranzuziehen. Wenn „gut“, dann allenfalls gute Patrioten und im Falle des Karate Anko Itosu´s gute Soldaten, die zäh und geduldig fürs Vaterland kämpften. Wir wissen heute, dass dies dann außerhalb des eigenen Territoriums, vorzugsweise in China und Korea geschah – ähnlich wie derzeit russische Truppen ihre Heimat „verteidigen“. Zu all dem Übel herrscht bei der Definition des Begriffes Budō keinerlei Klarheit. Die meisten „Experten“ und Autoren vermengen ihn mit Bushidō, einem Wort, das noch viel mehr von fragwürdigen Idealen geprägt wurde.

Was es braucht, ist mehr Flexibilität!

An sich positive Moralprinzipien wie Respekt und Treue wurden und werden in Kampfkunstkreisen immer noch deformiert und missbraucht, zum Wohle von was auch immer, aber zumindest kaum für die Gesellschaft. Nicht zu vergessen dabei: der Sensei hat immer Recht … Wie bereits erwähnt verdanke ich einen geraumen Teil meiner zuletzt gewonnenen Einsichten und Erkenntnisse den Arbeiten von Dr. Wolfgang Herbert, seines zeichens Professor für Vergleichende Kulturwissenschaften an der Universität Tokushima. Er arbeitet derzeit an einem Buch zu all diesen Themen, weshalb ich an dieser Stelle nicht allzu viel vorweg nehmen möchte. Wir können gespannt sein.

 

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Meister Anko Itosu – Ahnenforschung im Karate

Neues über die ganz „alte Schule“

Je mehr man über dessen Hintergründe weiß, desto mehr versteht man einen Sachverhalt. Und schon Konfuzius stellte klar: „Nach dem Alten suchen heißt das Neue verstehen“.

In diesem Sinne erlaube ich mir die Beurteilung eines relativ neuen Buches – oder deren zwei, wie man will – durch meinen Freund und Trainingskameraden Dr. Wolfgang Herbert hier wiederzugeben.

Dem bleibt kaum mehr etwas hinzuzufügen.

Erschienen in Toshiya, Magazin für Karate, Kampfkunst & Kultur, Ed. 91 (Nov./Dez. 2021), 38-41; mit freundlicher Genehmigung des Autors.

 

 

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zum Jahr des Wasser-Tigers

gewagte (?) Prognosen

Eigentlich hatte ich es vorgezogen mich zu all den Zeremonien zum Jahresende und den mittlerweile recht „flach“ gewordenen Weihnachtsbräuchen nicht mehr gesondert zu äußern. Ich tat dies ja früher mehrfach, insbesondere im Hinblick auf die allenthalben um sich greifenden Verquickungen mit Kampfkunst und Budō. Andererseits hatte ich bislang zu jedem Wechsel der Jahre nach der altchinesischen Zählung meinen Kommentar gegeben. Ich will letzteres wieder tun, obwohl die von mir wenn auch nicht selbst gemachten, sondern von Anderen übernommenen Prognosen am Ende als nicht immer so recht positiv bewahrheiten wollten.

ein Wasser-Tiger

Am 1. Januar beginnt das Jahr des Tigers, es endet am  23. Januar 2023. Nach nun mittlerweile 60 Jahren ist dieser Tiger wieder mit der Wandlungsphase Wasser kombiniert. Dies macht dessen vehementen Auswirkungen etwas moderater. Denn der Tiger gilt zwar als impulsiv, stark und schwer berechenbar, aber das Wasser mildert in gewisser Weise diese Eingenschaften, denn es steht für Flexibiltät und Offenheit. Insofern verspricht das kommende ein spannendes und ereignisreiches Jahr zu werden. Ob jedoch glückverheißend, das hängt von den jeweiligen Umständen ab. Es werden von uns Charakteristika wie Mut, Durchsetzungskraft, Selbstbewusstsein und die Bereitschaft zum Abenteuer gefordert. Andererseits fühlen wir uns alle durch den Einfluss des Tigers etwas mutiger als sonst und meinen entsprechende Kräfte freisetzen zu können. Wie jedoch das ganze dann für jede/n ausgeht, ist nicht garantiert.

das Kanji für Tiger im Rahmen von Horoskopen weicht vom üblichen ab

Somit werden fast alle Menschen, auch die anderer Tierkreiszeichen in Versuchung kommen, sich selbst in riskante Situationen zu bringen. Ganz nach dem Vorbild des Tigers. Zwar können unglaubliche Gewinne realisiert werden, egal in welchem Bereich, ganz getreu dem Motto „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.“. Es kann jdeoch auch ebenso zu schweren Verlusten kommen. Während also noch im vergangenen Jahr des Büffels eingermaßen garantiert war, dass sich durch Fleiß und harte Arbeit der Erfolg einstellt, so ist dies bis auf weiteres eher ungewiss, man könnte fast sagen auch ziehmlich vom Glück abhängig.

Das Jahr des Tigers wird ein sehr „starkes“ Jahr, das große Veränderungen und Herausforderungen mit sich bringen wird. Sie können durchaus das allgemeine kulturelle, aber auch das Leben Einzelner durcheinanderbringen. Vor allem das Streben nach Erfolg und Unabhängigkeit prägen das Tigerjahr. Dabei sollten auch die Stärkung von zwischenmenschlichen Beziehungen und die der Gesundheit  eine große Rolle spielen.

Uechi-ryu soll auf den …

Ich möchte hier noch einmal betonen, dass Horoskope stark von ihrer Interpretation abhängen. Ob etwas so oder so eintritt, hängt von dem jeweiligen Individuum ab und von den Umständen, in denen es sich befindet. Das Thema ist sehr komplex und nicht ohne Grund gab es schon immer – nicht nur in China – Experten, Leute die sich intensiv und in der Regel beruflich mit dieser Materie auseinandersetz(t)en. Sie griffen/greifen dabei auf ein immenses Wissen vergangener Jahrtausende, auf präzise Beobachtungen und Erfahrungen weiser Leute zurück. Zwar hatten unsere Vorfahrungen ein Vokabular benutzt, das heute kaum mehr angemessen ist. Trotzdem meine ich, dass nicht alles „Humbug“ ist, nur weil das geschriebene Wort allzu sehr nach Mittelalter anmutet.

… klassischen Stil des Tigers zurückgehen.

Aus meiner Sicht macht die Astrologie die Geschehnisse um uns herum auf subtile Weise erklärbar und kann sie zu einem gewissen Grad vorhersehbar machen. „Vorhersehbar“ bezieht sich hier jedoch nicht auf ein besonderes Ereignis an sich, sondern auf mögliche Konsequenzen, welche positiv, aber auch negativ sein können. Gerade für den letzteren Fall ist es dienlich, mental und emotional vorbereitet zu sein, wobei ich hier in keiner Weise zu Pessimismus raten möchte. Eher im Sinne des Großen Strategen Sun Tsu, der da schrieb: „Rechne nicht damit, dass der Feind nicht angreift und treffe Vorkehrungen; sollte er es dann doch nicht tun, um so besser.“

irgendwie doch unverschämt …

Es geht demnach weniger darum, ob man an Horoskope „glaubt“. Ob die Erstellung eines Horoskops überzeugen kann, hängt von dessen Authentizität ab. Glorreiche Versprechungen sollten sicher unser Misstrauen wecken, ebenso wie all jene Fünfzeiler in der Fernsehzeitung. Ein ernstzunehmendes Horoskop will für die einzelne Person verfasst sein, ein im übrigen sehr aufwendiger Prozess. Darum also nochmals: Prognosen zum Jahr des Tigers können uns allenfalls einstimmen auf einen wahrscheinlichen Verlauf oder eine Grundtendenz. Andersherum ausgedrückt, wir können uns darauf einstellen, wie es wohl schon mal nicht kommen wird. Insofern werden diesjahr vermehrt Entscheidungen gefällt werden. Empfehlenswert nur dies mit Bedacht und nicht zu spontan zu tun!

 

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Alte Schule im Budo

Karate und fortschreitende Lebenszeit

der Blick macht´s

Der Herbst ist wohl für viele Leute – auch außerhalb der Kampfkünste – die Jahreszeit vermehrter Kontemplation. Das Sinnieren über den Lauf der Welt oder das eigene Leben führt nicht selten in die Melancholie. Mag der Oktober noch so golden sein, spätestens im November wird die Stimmung trübe. All dies  wird um so intensiver wahrgenommen wenn es im Laufe des Jahres im persönlichen Umfeld zu tragischen Ereignissen kam, wenn etwa allernächste Angehörige von uns gingen. Bei dem Bemühen um eine würdige Bestattung und der Regelung des Nachlass kommen uns schnell auch Gedanken an das eigene Ende.

Besondere Trauer erfasst uns, wenn wir den betreffenden Menschen in seinen letzten Jahren, Monaten und Tagen begleitet hatten. Man bemerkt, dass auch der eigene Körper nicht mehr so funktioniert wie früher. Es gibt kleinere und größere, teils lästige Beschwerden in zunemender Zahl, die sich nicht so recht bessern wollen. „Magische“ Zahlen wie die 60 oder das klassische Renteneintrittsalter können erschreckend wirken. Die eigenen Gedankengänge spielen sich zunemend in der Vergangenheit ab. Erinnerungen treten vermehrt an die Stelle des Schmiedens von Plänen. Man fragt sich was man alles hätte besser machen können. Dabei sehe ich Nostalgie für sich als etwas Positives. Sie hilft uns zu vermeiden, dass wir unsere Wurzeln verlieren. Sie weckt in uns Respekt und Dankbarkeit für das Erreichte, sei es das unsrige oder das anderer.

Das Altern birgt durchaus die Gefahr, dass man sich allzu sehr in ebenjenen Erinnerungen verliert. Sofern man es allerdings schafft dieses Schwelgen im Vergangenen konstruktiv zu gestalten, kommt es bisweilen sogar zur Erfüllung lang gehegter Wünsche. So fahre ich seit 11 Jahren wieder Motorrad, andere reisen nach Japan, China oder zum Grab Anko Iosus´s nach Okinawa. „Alter schützt vor Torheit nicht“ sagt ein Sprichwort. Andererseits sind wir nicht selten geneigt betagten Menschen ein gewisses Maß an Wissen, wenn nicht sogar Weisheit zuzubilligen. So stellt sich die provokante Frage: kann ein junger Mensch weise sein? Ich lasse die Antwort offen … Zweifel an der Richtigkeit oder dem Sinn des eigenen Tuns sollten im Rückblick zu gewisser Erkenntnis führen, etwa derart, was hätte man (oder ich) anders machen sollen, aber auch was war auch aus heutiger Sicht gut so? Aus den Fehlern lernen wäre das Stichwort.

Torheit? Sensei Demura zerklopft Kieselsteine.

Auf die Kampfkunst bezogen hieße das: welche Art der Übung hat etwas gebracht, welche „kann man vergessen“? Welches Verhalten im Kampf hat sich als zweckmäßig erwiesen, was war „Asche“? Sensei Demura pflegte – besonders in zunehmendem Alter – zu betonen, dass jede/r von uns mindestens einmal im Leben dankbar sein wird über lange Zeit regelmäßig geübt zu haben. Das beginnt damit, dass aus den Regeln des Trainingsalltags, den ständigen Wiederholungen des gleichbleibenden Zeremoniell (s. meinen Beitrag „Ritus Karate“) sich auch eine Bereitschaft im täglichen Leben einstellt Routinen als solche insgesamt zuzulassen.

Ich werde konkreter: Wer in fortgeschrittenem Alter vom Arzt empfohlen bekommt etwas für die Gesundheit zu tun, wird es schwer haben direkt in die dazu nötige Routine zu finden, bzw. sie sich im Alltag einzurichten. Überhaupt bin ich der Meinung, dass die Vermeidung eines Infarkts nur wenig motiviert regelmäßig körperliche Übungen durchzuführen. Hehere Ziele wie etwa die Überlegenheit in einem möglichen Kampf oder erweiterte Geisteszustände sind da besser dienlich. Eventuelle Gefühle des Glücks oder besser gesagt profunder Zufriedenheit im Anschluss an einen Workout kommen erst mit der Zeit; zuerst dominiert die Erschöpfung. Es ist demnach von Vorteil bereits in jüngeren Jahren mit der Übungspraxis zu begonnen zu haben.

Die meisten von uns (Karate-Leuten) tragen bereits das Motto der täglichen Übung – in Japan sagt man: maininchi-mainichi – als pseudomoralisches Ideal in ihrem Unterwusstsein. Mit anderen Worten, wer über lange Zeit regelmäßig trainiert hat, der/dem fehlt etwas wenn er/sie pausiert oder gar aufhört. Es beschleicht einen so etwas wie ein schlechtes Gewissen gegen selbst gesetzte Regeln verstoßen zu haben. Aber mehr noch, der Körper selbst verlangt nach den gewohnten Bewegungen, welche helfen die Zirkulation des Ki zu stabilisieren.

Eine gestörter Fluss des Ki bzw. Qi führt zu Unwohlsein und über die Dauer ins Kranksein. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine persönliche Beobachtung: Durch die vielen unvermeidlichen kleinen und mittleren Blessuren bei Training und Meisterschaft liegt meine Regenerationsfähigkeit insgesamt scheinbar über dem Durchschnitt. Gerade in der letzten Zeit konnte ich beobachten, dass ich mich im Verhältnis zu anderen Leuten relativ rasch erholte, z.B. nachdem ich mit dem Motorrad von einem Auto angefahren wurde. Zumindest äußerten sich alle, die mit der Behandlung meiner (nur leichten) Verletzungen befasst waren recht überrascht darüber. Möglicherweise ist auch diese Reaktionsfähigkeit des Körpers auf ein stabiler fließendes Qi rückführbar. Die relativ geringe Schwere der Folgen jenes Unfalls selbst erklärt sich möglicherweise wohl eher aus einer Fähigkeit zur Reaktion, welche sich aus der Übungsroutine des Kumite ergeben hatte. Wir kennen ja bei den etwas fortgeschritteneren Varianten auch Take-downs oder wenn ma so will „Würfe“. Als Geworfener tut man gut daran dies muskulär entspannt zu ertragen, auf dass man unbeschadet wieder aufsteht. Auch die indirekte innere Zustimmung zur Situation „Ich werde jetzt von meinen Partner geworfen“ erleichtert auf Dauer eine emotionale Entspanntheit auch in weniger kontrollierten Lagen, sei es im Freikampf oder im Rahmen eines Sturzes, sei es bei Glatteis oder eben mit dem Motorrad.

Gift für die Gelenke?

Mit zunehmendem Alter gilt es all diese mit der Zeit erworbenen Fähigkeiten neben den rein (kampf-)technischen zu erhalten. Hierzu gehört auch das Ablegen von Übungsmethoden, die eigentlich nichts bringen. Wenn man jung ist, bemerkt man es kaum, aber es gibt Herangehensweisen an die Technik, die sich im Laufe der Zeit als unzweckmäßig, überholt, wenn nicht sogar schädlich erweisen. Beispiele wären Übungen, welche die Gelenke auf unnatürliche Weise überfordern, wie etwa Drehkicks oder eine falsch ausgeführte Form von Sanchin-dachi.

Auch wenn viele meinen einiges „wegstecken“ zu können, sei es beim Abhärten bestimmter Körperpartien oder bei allzu hartem Kontakt in Übungs- und Wettkämpfen, die mitunter entstehenden, zunächst unbemerkten Blockaden im Qi-Fluss führen unbehandelt, insbesondere bei häufiger Wiederholung der Fehler in Krankheiten wie Arthrose, Bluthochdruck oder schlimmere. Als Beispiel möchte ich die immer noch recht verbreiteten harten Blocktechniken erwähnen. Ich meine, in der Vergangenheit haben sich bei der Entwicklung des Karate zu seiner heutigen Form einige Betrachtungen eingeschlichen, die unangemessen bis falsch sind. Harte Blocktechniken, wie sie allgemein immer noch gelehrt werden, sind im Realfall einfach zu langsam. Die Reizleitung von den Augen über das Gehirn hin zur Muskulatur dauert zu lange. Aber abgesehen davon birgt deren exzessives Üben mit dem Partner die Gefahr, dass bestimmte vitale Zonen in Mitleidenschaft gezogen werden. Am Unterarm befinden sich eine ganze Reihe von Stellen die in der Akupunktur Verwendung finden um chronische Erkrankungen zu behandeln, da sie eine tiefgreifende Wikung auf das Qi bestimmter Organe entfalten können. Werden ebendiese Punkte oder Zonen traumatisiert, kann es zum genau entgegen gerichteteten Prozess kommen. Statt zu einer heilenden kommt es zur krankmachenden Wirkung. Besonders gefährdet ist der Meridianpunkt Lu-7 (Lunge Nr. 7), welcher sich auf der Kante des Leistenknochens in der Nähe des Daumens befindet. Zu harter Kontakt bem Ausführen von Yoko-uke (Uchi-ude-uke) kann tatsächlich zu Problemen mit der Lunge führen. Auch allzu hart ausgeführes Testen der Körperspannung im Rahmen von Sanchin-dameshi kann in dieser unerwünschten Richtung wirken, wenn es dadurch zu einer Bockade in den Leitbahnen des Qi kommt.

Vitalzone Lu-7

Dem Alterungsprozess entgegenzuwirken beginnt eigentlich schon in jungen Jahren. Je später mit der Gesunderhaltung begonnen wird, desto schwerer fällt sie einem und desto weniger bringt sie letzendlich. Es ist nicht nur dies eine Erkenntnis, gegen die man selbst nur wenig ausrichten kann, so unbefriedigend das auch sein mag. Nichtsdestotrotz kann regelmäßige Praxis der Kampfkünste (aber auch die anderen Sports) den Alterungsprozess bis zu einem gewissen Grad aufhalten – analog wie die Ausübung bestimmer Berufe, wie im etwa Bergbau oder am Hochofen, diesen leider auch beschleunigen kann. So galt früher ein 50-Jähriger schon als „alt“, während man da heute sowohl Frauen als auch Männer dieser Altersgruppe gerne als „in den besten Jahren“ bezeichnet würde.

pflegte einen moderaten Lebensstil: Meister Hakuo Sagawa

Man ist so jung wie man/frau sich fühlt, heißt es auch. Dabei hängt vieles von der eigenen Einstellung ab, d.h. ob man „jung denkt“. Ein Problem ist hierbei sicherlich das allmähliche Wegfallen von langfristigen Perspektiven. Je weiter das Leben voranschreitet, desto weniger macht es Sinn weit in die Zukunft zu planen und die Möglichkeit des eigenen Ablebens rückt aus der Ferne mehr und mehr in den Bereich des Wahrscheinlichen. Dies um so mehr wenn „die Einschläge immer dichter kommen“, wenn also im Freundes- und Verwandtenkreis vermehrt geliebte Menschen das Zeitliche segnen. Ein wesentlicher Faktor für das Jungfühlen ist meines Erachtens der Erhalt oder der Zugewinn an Flexibilität. Was die des Körpers angeht, so können wir diese durch geschicktes kontinuierliches Üben einigermaßen erhalten, eher als wenn wir gar nichts täten. Wichtig ist nur sich nicht zu überfordern und dass man das Training allmählich „weicher“ werden lässt. Muskulatur, Sehnen und Gelenke werden mit der Zeit immer spröder und fallen bei überzogenem Einsatz eher der Verletzung anheim. Es ist dies ein Prozess, der bereits mit Anfang zwanzig einsetzt, nur dass wir diesen da kaum bemerken.

In dem uns bekannten Karate wird, so meine ich, allzuviel Wert auf Härte gelegt, wie immer dies interpretiert werden mag: Härte der Technik und Härte beim Üben – oder auch Härte sich selbst gegenüber. Dies alles ist sicher eine für junge Menschen angemesene Grundanforderung. Mit zunehmendem Alter sollte den bereits erwähnten physischen Veränderungen des Körpers und der Erkenntnis des Laotse, nämlich das über lang das Weiche das Harte besiegt, Rechnung getragen werden Als Beispiel mögen unsere Stoßtechniken (tsuki-waza) dienen, welche ja meist mit maximaler Muskelspannung in ihrer Endphase ausgeführt werden bzw. werden sollen. Ein Resultat sich ändernder Vorstellungen im ausgehenden 19. Jahrhundert bezüglich der Motivation weshalb überhaupt Karate geübt werden sollte (vgl. dazu meinen Beitrag über Anko Itosu, „Spatenstich und Gyaku-zuki“).

back to the roots: Fritz Nöpel mit Ippon-ken

Auch im Sinne von „back to the roots“ empfiehlt es sich zumindest darüber nachzudenken an dieser Stelle gewisse Modifizierungen zuzulassen. Der Übergang zu einer federnden Stoßausführung, mitunter muchimi genannt, wäre das Endergebnis. Es ist dies eine für Muskulatur und Gelenke viel schonendere und damit verschleißärmere Weise des Stoßens, die im übrigen, sofern wohlplaziert, auch wirksamer sein kann als der allgemein übliche, in seiner Endphase ja letztlich gebremste Stoß. So sind wir mit dieser Betrachtung zu einem wesentlichen Gesichtspunkt unserer Kampfkunst gelangt. Ihre Wirksamkeit sollte sich auch im Alter weiter entwickeln, d.h. im Rahmen des Möglichen zunehmen! Mir fällt es schwer mich der weit verbreiteten Meinung anzuschließen, dass das Karate eines älteren Menschen sich auf symbolische Bewegungen beschränkt, die zudem nicht einmal dem ästhetischen Empfinden des allmein gültigen Ideals von Dynamik und Spektakularität entsprechen. Denn bei der Wirksamkeit einer Technik ist letztlich das Resultat entscheidend, nicht deren Aussehen.

Auch an dieser Stelle bedarf es einer vermehrten Flexibilität des Denkens. Als „alternder Krieger“ sollte man den sich ändernen Gegebenheiten nachgeben und einen Wandel in Ausführung, Training und Anwendung der eigenen Technik zulassen. Das Aneignen von Hintergrundinformation, insbesondere zur Geschichte des Karate, Kenntnisse in Anatomie und Phsysiologie oder ein Basiswissen in Chinesischer Heilkunde, können sich da als sehr hilfreich erweisen. Der Nachteil abnehmender körperlicher Stärke kann so durch Zunahme an geistiger Überlegenheit ausgeglichen werden. In einem vorigen Beitrag mit dem Titel „Dem Alter gerecht üben Teil 2“ hatte ich bereits detailliert Anregungen zur entspechenden Umsetzung des hier Gesagten in die Praxis gegeben. Und bei all dem bin ich nicht der Einzige, der so denkt. Nebem meiner Wenigkeit hatte auch der uns allen bekannte und geschätzte Meister Fritz Nöpel mit seinem allerorts empfohlenen und unterrichteten Jukuren-Training ganz ähnliche Ansichten vertreten.

alles eine Sache des Ki

Zugegeben, es scheint irgendwo bequemer an dem Alten, scheinbar Bewährten festzuhalten. Umdenken erfordert geistige Mühe. Auch die körperliche Agilität einigermaßen zu erhalten bedarf immer mehr Überwindung. Zwar spürt man ständig diesen Drang, den Wunsch einer inneren Instanz zum Üben, oft vergeht einem dann aber im entscheidenen Moment, nähmlich nach dem Anziehen der Kluft, wenn es losgehen soll total die Lust an der ja letztlich anstrengenden Bewegung. Zumindest ergeht es nicht selten mir so. Hier hilft (wieder einmal) die über einen langen Zeitraum erarbeitete Routine. Nach einem inneren Ruck und den ersten Übungen zum Erwärmen des Körpers und zunehmder Zirkulation des Qi läuft das Programm immer leichter bis zum Ende ab und wir können am Ende zufrieden sein. Tut man all dies nicht, dann befällt einen eine gewisses Unbehagen. Man spürt, dass etwas fehlt und nach längerer Pause oder vollständigen Aufhören kommt es zur schnellen Degeneration, körperlich und geistig; man „rostet“ ein.

Moderate Bewegung – die kann durchaus verbunden mit Schwitzen sein – fördert den Stoffwechsel und kompensiert zu einem gewissen Grad auch unsere Ernährungssünden. Über letztere möchte ich jedoch keine Worte verlieren, zumindest jetzt nicht. Die vermehrte Blutzirkulation während des Trainings erhält auch die Hirnaktivität. Körperliches Üben fördert somit den Geist, während produktives Nachdenken in Richtung eines angemessenen Traingsplans im Gegenzug dem Körper zugute kommt.

sollte zu langem Leben führen: der himmlische Kreislauf der Inneren Alchimie

Meister Gichin Funakoshi erwähnt in einem seiner Werke, dass sich das Ausmaß des täglichen Trainings bei Fortgeschrittenen auf 20 Minuten reduzieren könne. Die Frage ist hier, was verstand der Meister und „Fortgeschrittenen“. Ich würde sagen, zumindest in fortgeschrittenem Alter könne man getrost davon absehen jedes mal volle 2 Stunden zu trainieren. Jene 2 Stunden waren in einer Zeit üblich wo die Vereine nur ein Training pro Woche, eventuell auch zwei anboten. Heute ist es eher möglich sich den Übungsplan nach Bedürfnis und Geschmack zu gestalten – wenn man nur wirklich will … Wichtig ist auf jeden Fall die Regelmäßigkeit. Choki Motobu und dessen Zeitgenossen empfahlen jeden Morgen 200 Tsuki links und 100 Tsuki rechts am Makiwara (vor dem Frühstück) auszuführen. Nun gut, dies hängt auch von der Toleranz der Nachbarn ab (ich bitte letzteres nicht gar so ernst zu nehmen).

Der Gebrauch des Makiwara ist ein schönes Beispiel für eine individualisierte, von der Gruppe losgelösten Übungspraxis, die gerade älter werdende Karateka pflegen sollten. Das nötige Basiswissen dazu dürfte dazu vorhanden sein, was jedoch den guten Willen angeht, da kann ich nur für mich und nicht für andere sprechen. Mit der Kata sind wir im Karate in der glücklichen Lage gleichsam vorgefertigte Übungsprogramme überliefert zu haben. Auch hier empfehle ich beim Üben weniger mehr werden zu lassen. Bei der einzelnen Bewegungen geht es nicht um maximal eingesetzte sondern maximal wirksame Kraft. Es gilt die entsprechenden Momente (Akzente) während der Ausführung mehr und mehr zu erspüren, d.h. den Prozess der technischen Entwicklung nach innen wachsen zu lassen.

Was die nötige Anzahl der geübten Kata angeht, gehen die Meinungen und Geschmäcker auseinander. Ich meine aus alten Geschichten der Kampfkunst vestanden zu haben, dass das Arsenal der geübten Bewegungen sich mit zunehmender Vertiefung der Übungspraxis – was im übrigen auch erst bei zunemenden Alter stattfinden kann – von alleine reduziert. Anders ausgedrückt: man verspürt immer weniger den Wunsch viel zu können, das wenige aber dafür richtig. Insofern reichen sicher 3 bis 5 Kata für das regelmäßige Training aus, Wie in alten Zeiten eben; back to the roots! … Und nach 10, 20, 40 oder mehr Jahren der Übungspraxis sollten von uns doch die unserer Kampfkunst innewohnenden Prinzipien erfasst worden sein.

auch eine Form der Unsterblichkeit

Die Maxime „Karate-do is a life-time study“ verstehe ich daher so, dass die Praxis im Alter durchaus über das reine Erhalten der Fähigkeiten hinaus gehen kann, obwohl kaum noch physisches d.h. körperliches „Besserwerden“ möglich zu sein scheint. Ausgehend von der Ökonomisierung der Bewegungen kann eine Verbesserung  der kampftaktischen Fähigkeiten besonders auf geistiger Ebene erreicht werden, etwa durch das Ausüben energetischer Übungen wie Qigong, durch Meditation oder besondere Formen des Kumite (Iai). Aber auch das profunde Studium einschlägiger Literatur wie Werke von Musashi oder des Sun Tsu  wären hier zu empfehlen. Ob jung oder alt, geistige Flexibelität ist in der Kampfkunst unabdingbar, wozu auch gehört immer wieder sich selbst in Frage zu stellen. Denn dem (potenziellen) Feind ist nicht zu trauen. Wenn man ihm voraus sein will, muss man die eigenen Fähigkeiten stets verbesseren. Und dazu gehört eben nun mal die introspektive Fehlersuche. Eine weitere Maxime des Budo!

Bei der Betrachtung all dieser Dinge empfiehlt es sich dies möglichst wenig beeinflusst von Emotionen zu tun. Trotzdem kommen auch mir bei der Kontemplation Gefühle von Traurigkeit, aber auch von Enttäuschung und Resigniation. Die Bereitschaft die Welt mit ihren Vorgängen so zu nehmen wie sie ist, erweist sich als nicht besonders leicht. Illustre Leute wie der daoistische Weise Chuang-zi beklagten dies schon vor über 2000 Jahren.

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